Stromschnellen: Roman (German Edition)
draußen abwarten musste. Wieder sah sie sich suchend nach ihrem Gewehr um, aber das war natürlich drüben in der Hütte.
»Ich bin vor drei Jahren wegen meines Jobs aus Indiana hier raufgezogen«, erzählte Michael. »Mit Danielle. Damals wusste ich noch nicht, wie materialistisch sie ist. Woher kommst du?«
Sie sah ihm an, dass er auf die Antwort warten würde. »Aus Murrayville«, sagte sie.
»Das liegt rund dreißig Meilen flussabwärts, auf halbem Weg zum Stauwehr.«
Sie nickte und sah aus dem Fenster. Paul war gerade auf dem Steg zugange.
»Als Danielle noch hier war, habe ich den Fluss als Hintergrund kaum wahrgenommen. Jetzt lässt er mich nicht mehr los. Ich schaue stundenlang aufs Wasser.«
Kurz bevor Margo das Omelett aufgegessen hatte, setzte sich Paul endlich ins Boot, stieß sich ab und fuhr flussaufwärts. Kaum war er nicht mehr zu sehen, ließ sie die Gabel auf den Teller fallen. Das Klirren ließ sie zusammenzucken. »Ich muss jetzt gehen«, verkündete sie.
»Kannst du nicht noch ein bisschen bleiben? Ich versprech dir auch, nicht länger über die Frauen zu jammern. Komm, ich mach dir noch einen Toast.«
Sie setzte sich wieder hin, blieb aber sprungbereit.
»Du kommst mir vor wie ein Mädchen, das von Wölfen oder so aufgezogen wurde.« Er steckte zwei Scheiben Brot in den glänzenden Toaster auf der Arbeitsplatte.
Margo taxierte ihn mit zusammengekniffenen Augen.
»Da habe ich mich wohl ungeschickt ausgedrückt. Ich wollte damit nicht sagen, dass du wie ein Tier aussiehst.« Er drückte den Schieber nach unten, und gleich darauf roch es nach geröstetem Brot. Bei dem Geruch vermisste sie Joannas Küche, in der es morgens immer nach gebratenen Schinkenstreifen und knusprigem Zimtbrot geduftet hatte. Michael erklärte sich: »Manchmal sind Kinder, die sich verlaufen hatten, von Wölfen aufgenommen worden. Nach ihrer Rettung hielten es diese Kinder nicht mehr in geschlossenen Räumen aus. Sie wollten immer draußen sein. Das meinte ich.«
Margo musste ihm nicht zuhören. Sie war nur mitgegangen, um vor Paul sicher zu sein.
»Danke für das Essen«, sagte sie, stand auf und stürzte aus der Küchentür. Hinter ihr hüpfte das Brot im Toaster hoch. Margo hob Ruder, Munition und Einkäufe vom Boden auf und ging flussabwärts zu ihrem Boot. In der Mitte des Flusses verspürte sie für einen Augenblick ein Gefühl der Freiheit, aber als sie gleich darauf am Steg anlegte, erblickte sie als Erstes die an die Eiche genagelten verwesenden Fischköpfe. Sie sperrte mit ihrem Schlüssel das Vorhängeschloss auf, ging neben dem Bett in die Hocke und zog ihre Büchse und ihren Rucksack hervor. Beides war unangetastet. Da fiel ihr ein, dass sie keine Zündhölzer gekauft hatte – in der Schachtel befanden sich nur noch zwei Stück.
Sie zerknüllte die letzten Briefe an ihre Mutter, die sie auf die Rückseite gebrauchter Zielscheiben geschrieben hatte, steckte sie in den Ofen und schichtete ein wenig Anmachholz darauf. Dann entfachte sie ein Feuer und döste ein. Als sie aufwachte, war das Feuer erloschen, aber sie wollte nicht ihr letztes Streichholz verbrauchen, um es wieder anzuzünden. Der Himmel war strahlend blau. Margo ging zum Steg, um sich in der Sonne aufzuwärmen. Dort sah sie an sich herab und stellte überrascht fest, dass sie immer noch Michaels Sachen trug. Als sein Jeep am anderen Ufer davonrollte, presste sie das Gesicht in sein sauberes Sweatshirt.
10. KAPITEL
Als sich die Nacht breitmachte, zündete Margo mit ihrem letzten Streichholz die Lampe an. Viel Petroleum war nicht mehr übrig, und das flackernde Licht schien die Dunkelheit noch zu vertiefen. Der Regen prasselte aufs Dach, und zum ersten Mal wurde ihr klar, dass Brian tatsächlich nicht zurückkommen würde, Paul dagegen mit Sicherheit. Sie dachte an die Farm der Murrays, an die schulterhohen Holzstapel, die Onkel Cal und die Jungs bestimmt schon für den Winter zurechtgesägt, gehackt und aufgeschichtet hatten. Ihr eigener Vorrat beschränkte sich auf eine Schlittenfuhre gehacktes Eichenholz und zwei Armladungen Reisig. Im vorigen Winter hatte Brian die Hütte reichlich mit Proviant und Brennstoff ausgestattet, aber dazu fehlten Margo die Mittel. Vielleicht sollte sie von hier weg, solange sie noch konnte, auf die andere Seite rudern, das Boot irgendwo verstecken und per Anhalter nach Lake Lynne fahren. Wenn ihre Mutter sie nur bei sich haben wollte!
Den ganzen Abend saß Margo, in Decken gewickelt, auf Brians Bett und
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