Stromschnellen: Roman (German Edition)
dass sie sich vielleicht nicht vor einem Fremden ausziehen sollte. Michael blickte weg und verließ unvermittelt den Raum. Margo erkannte die dünne, schmutzige Gestalt im Spiegel kaum wieder. Ihr Körper sah nicht gerade belastbar aus. Die Schultern waren vor Kälte hochgezogen. Die dunklen Locken waren verfilzt, das Gesicht durch Kratzer, Insektenstiche und von Giftefeu hervorgerufene Bläschen entstellt. Die kleinen Brüste wirkten verschrumpelt. Ihre Mutter hätte gesagt, dass sie wie eine Slocum aussah. Dreimal schamponierte sie sich das Haar, bis das Spülwasser klar blieb.
Obwohl sie bei einem Fremden unter der Dusche stand, fühlte sie sich sicher. Unter dem Wasserstrahl ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Als das Warmwasser nach einer Weile ausging, riss sie sich zusammen, indem sie sich die heiteren Fotos von Annie Oakley in Erinnerung rief, auf denen sie die Büchse anlegte und zielte – in der Gewissheit, dass jeder Schuss ein Treffer wäre. Ein Foto mochte Margo besonders: Darauf stand die junge Annie Oakley neben ihrem frisch angetrauten Ehemann Frank Butler und ihrem großen weißen Hund George.
Margo schlüpfte in den dunklen Frotteebademantel, der an der Tür hing, und tappte durch den Flur zu dem Zimmer mit dem Bootsgerippe. Es wirkte zu groß, um durch die Tür zu passen. Von hier hatte man keinen Blick aufs Wasser, daher verwunderte es nicht, dass Michael nicht darin schlief. Auf einem Holzstuhl lag fein säuberlich ein halbes Dutzend Werkzeuge aufgereiht. Margo kehrte in das Zimmer mit der Glasschiebetür zurück und schmiegte sich auf dem Boden an King. Da kam Michael herein und setzte sich ans Fußende des Betts. Belustigt sah er sie an. »Bist du ein Wolfsmädchen? Oder vielleicht ein Hundemädchen?«
»Ich habe King von drüben beim Fischen zugesehen.«
»Warum nennst du sie King?«
»Wegen des Königsfischers. Er hat auch so einen großen Kopf wie sie.«
»Vor Cleo hatte ich noch nie einen Hund«, sagte Michael. Er ging in die Hocke und streichelte den Kopf des Tieres. »Das war eine ziemlich verrückte Geschichte. Als ich den Kaufvertrag für das Haus unterschrieb, fragte mich der Vorbesitzer, ob ich sie behalten will, weil sie den Fluss liebt und nirgendwo sonst glücklich wäre. Er nannte sie Renegade . Ich fand, dass Cleopatra besser zu einem Flusshund passt. Cleopatra, Königin des Nils, oder kurz: Cleo.« Michael zupfte liebevoll an Cleos Ohr, und die Hündin öffnete das Maul zu einem Lächeln. »Du schläfst in meinem Bett, und ich schlafe auf dem Boden. Vielleicht ist dir schon aufgefallen, dass ich keine Couch habe.«
»Wir können beide im Bett schlafen«, schlug Margo vor. »Es ist riesig.« Noch immer im Bademantel, kletterte sie auf der zum Fluss gelegenen Seite hinein. Michael blieb noch eine Weile am Fußende sitzen, dann legte er sich schulterzuckend neben sie.
»Was ist das für ein geheimnisvolles Licht in deinem Haus?«, fragte er.
»Eine Petroleumlampe.« Sie hatte sie brennen lassen in der Annahme, dass sie bald von allein ausgehen würde.
»Bringst du mir das Angeln bei?«
»Ich brauche Zündhölzer. Und ich habe kein Benzin mehr. Wenn du mir welches borgst, könnte ich mich revanchieren.«
»Hast du nebenan mein Boot gesehen?« Michael erwartete ein Nicken. »Als Danielle mich verlassen hat, wollte ich die Wände zuerst neu verkleiden, aber dann habe ich mir gesagt, dass ein Boot mir wichtiger wäre. Sobald es fertig ist, rudere ich den Fluss hoch zu der Insel mit den Schwarzweiden.«
»Mein Boot hat mir mein Grandpa geschenkt.«
»Dieses Bett hier habe ich selbst aus Roteichenholz gebaut. Nachdem Danielle mich verlassen hatte, habe ich zwei Monate auf einer Matratze auf dem Boden geschlafen, bis es fertig war. Odysseus hat sich sein Bett auch selbst gebaut, wusstest du das? Ich möchte alle wichtigen Dinge selbst bauen. Aus welchem Holz ist dein Boot?«
»Aus Teakholz. Das einzige Teakholzboot auf dem Fluss, hat mein Grandpa immer gesagt.« Margo hatte nicht die Kraft, ihn zu fragen, wer Odysseus war. Sie fuhr mit der Hand über das Kopfbrett des Betts. Es war aus soliden Brettern gefertigt, ohne Schnickschnack. Genau so ein Bett hätte Margo auch gerne, allerdings bräuchte ihres nicht fast den ganzen Raum einzunehmen.
»Dein Boot ist bestimmt ganz schön schwer«, sagte Michael. »Ich habe ein Schneidbrett aus Teakholz. Es wiegt so viel wie ein Ziegelstein.«
»Es liegt gut im Wasser, aber flussabwärts komme ich damit nur bis Confluence, weil es
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