Stromschnellen: Roman (German Edition)
ließ sie sich treiben, bis sie von der Hütte und Michaels Haus aus nicht mehr zu sehen war. Sie kam an einem einsamen schwarzen Fischer vorbei, der eine in eine braune Papiertüte gewickelte Flasche in der Hand hielt. Grüne Weidenköpfe weinten in ihrer Nähe. Zierschildkröten und blaue Zornnattern sonnten sich auf umgestürzten Baumstämmen und glitten ins Wasser, sobald sie näher kam. Auf einer Wurzel stand regungslos ein großer Kanadareiher und fischte, er hielt eins seiner hervorstechenden umringten Augen auf sie gerichtet, wachsam, aber furchtlos, solange Margo sich nur von der Strömung weitertragen ließ. Es reizte sie, nach den Rudern zu greifen und auf den Vogel zuzusteuern, doch sie beschloss, ihn in Ruhe zu lassen. Jetzt spürte sie die Strapazen ihrer zehnmonatigen Reise, dieser törichten, missglückten Reise den Fluss hinauf auf der Suche nach ihrer Mutter. Sie hatte das Bedürfnis, dazusitzen und sich alles durch den Kopf gehen zu lassen, als wäre ihr Leben eine Geschichte, die sie lesen oder sich anhören konnte.
Ein Mann fuhr mit seinem Schnellboot einen Bogen um sie. Margo wurde in seinem Kielwasser erst durchgeschüttelt und dann herumgewirbelt. Sie war schon lange, bevor sie von zu Hause weggegangen war, nicht mehr geschwommen und hatte das Gefühl von Freiheit vergessen, das sie immer verspürt hatte, wenn sie sich dem Fluss anheimgab. Sie kam an einem halben Dutzend Strandläufer auf einer Sandbank vorbei und beobachtete einen Grünreiher, der am Flussrand durch die Ranken des Giftefeus schlich. Margo war klar, dass sie sich Richtung Ufer halten sollte und das Ruder wieder in die Hand nehmen musste, doch da erblickte sie einen Baum, der wie Paul mit erhobenen Armen aussah. Ein anderer hatte die grüblerische Miene ihres Vaters. Für Sekunden glaubte sie in den sich im Wasser spiegelnden Ästen die schlanken, sonnengebräunten Arme ihrer Mutter zu erkennen, aber der Fluss strömte hier schnell dahin und lud nicht zum Verweilen ein. Margo kletterte neben ihr Gewehr auf die Rückbank, rollte sich zusammen und sann darüber nach, wie schön es war, einfach dahinzutreiben, sich von den Armen des Flusses leiten zu lassen, und wie schön es letzte Nacht gewesen war, mit Michael in seinem großen Bett zu liegen.
Das Nächste, was sie mitbekam, war die Tatsache, dass das Boot sich nicht mehr bewegte. Die Luft hatte sich abgekühlt, und sie schien sich auf der Rückbank nach Steuerbord zu neigen. Über sich erblickte Margo einen wackligen Steg, dem ein Pfahl fehlte, aber sie war nicht am Marihuanahaus in Murrayville gelandet, wie sie in ihrer Verwirrung im ersten Moment glaubte. Der Bug steckte in einer Sandbank bei einer baufälligen Hütte fest, die sie schon ein paarmal gesehen hatte, als sie mit Brian den Fluss hinuntergefahren war. Am Himmel sank bereits die Sonne, dabei war höchstens eine halbe Stunde vergangen, seit Margo die Augen geschlossen hatte. Als sie vor sich auf der mittleren Sitzbank einen Kanadareiher stehen sah, glaubte sie zuerst an eine Halluzination. Margo bewegte keinen Muskel und bemühte sich, nicht zu blinzeln. Sie betrachtete das klare, wilde, von einem Ring umgebene Auge und den harten Dolchschnabel und fragte sich, ob das Tier sie angreifen würde. Wassertropfen perlten auf dem gezackten Kamm des Vogels. Margo rührte sich nicht, als der Reiher von der Bank auf den nassen Bootsboden stieg und näher kam, als wäre sie ein Stück Beute. Sie hatte immer wieder Reiher beim Fischen zwischen verschlungenen Unterwasserwurzeln und beim Füttern ihrer Jungen in den Baumwipfeln beobachtet, aber nie hätte sie zu hoffen gewagt, einem von ihnen so nahe zu kommen, dass sie ihn berühren konnte. Da merkte sie, dass der Vogel sich an etwas golden Schimmerndes auf dem Boden heranpirschte – ein kleiner Fisch vielleicht. Der lange Schnabel schnappte nach dem glänzenden Gegenstand. Es war eine goldene Langwaffenpatrone Kaliber .22. Der Reiher blickte Margo in die Augen und hob sich in die Luft. Während er die Schwingen ausbreitete, streifte er mit den Federn Margos Knie und ließ die Patrone in ihren Schoß fallen. Mit angehaltenem Atem sah sie ihm nach. Dann betrachtete sie die Patrone und überlegte, ob dies so etwas wie eine Botschaft sein sollte.
Sie vergegenwärtigte sich das Flügelflattern, das Zischen der Luft, dachte an Michael in seinem Bett, an die durchs Fenster dringende Nachtluft, an seine warme Haut, die ihre streifte, und beschloss, dem Reiher flussaufwärts zu
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