Stromschnellen: Roman (German Edition)
Frühling war, blühten an Michaels Haus Hunderte von Narzissen. Manchmal spielte Margo mit dem Gedanken, mit .22er Schrotpatronen auf die Blütenköpfe zu schießen, aber nur um zu sehen, wie die Blätter in einem einzigen Feuerwerk auseinanderstoben, also um eine andere Art von Schönheit zu erschaffen. Annie Oakley hatte Schrotpatronen benutzt, um auf Ausstellungen Glaskugeln in der Luft zu zerschießen. Etwa dreißig Meilen flussabwärts hatte Joanna rund ums Haus der Murrays auch Hunderte von Narzissen gepflanzt – sie nannte sie Jonquillen , Osterglocken oder Tazetten, und manche waren orange gerändert –, und deshalb sah das Grundstück der Murrays jedes Jahr im April wie ein Märchenland aus.
Margo lebte gern mit Michael zusammen, aber sie hatte sich nach all den Monaten immer noch nicht dazu durchringen können, ihre Sachen auszupacken. Sie wusch ihre Kleider in seiner Maschine und stopfte sie nach dem Trocknen wieder in ihren Armeerucksack. Wenn sie zu viel Zeit im Haus verbrachte, wurde sie unruhig, aber ihr war klar, dass es ihr schwerfallen würde, ohne häusliche Annehmlichkeiten wie beheizte Zimmer, Warmwasser oder gekaufte Lebensmittel auszukommen. Sie hatte ihr Leben so stark nach Michael mit seinen Ritualen und vernünftigen Gewohnheiten ausgerichtet, dass sie manchmal stundenlang nicht an ihren Vater oder ihr früheres Leben, ja, nicht einmal an Brian oder Paul dachte, obwohl deren Hütte gleich gegenüberlag. Abends trieb Michael mit ihrer Hilfe geduldig seine Projekte voran: Er stellte die Böden fertig, brachte in allen Räumen Schnurleisten an und gab sich alle Mühe, ein perfektes Heim zu erschaffen. Bei der Vorstellung, dass der Umbau eines Tages beendet sein würde, wurde Margo mulmig. Sobald das Haus so wäre, wie er es haben wollte, verlegte er sich womöglich darauf, an ihr herumzubessern. Zum Glück wäre sein Boot dann noch lange nicht fertig und würde ihn noch eine Weile beschäftigen.
Über Annie Oakley hatte Margo mehr erfahren, seit Michael für sie ein Exemplar von Annie Oakley: Leben und Legende gekauft hatte. Darin stand, dass Annie als Phoebe Ann Mosey zur Welt gekommen war und ihren Namen als Erwachsene geändert hatte. Nach dem Tod ihres Vaters hatte ihre Mutter die dreizehnjährige Phoebe zu einem kinderlosen Paar gegeben. Die Leute ließen sie hart arbeiten, schlugen sie und gaben ihr nicht genug zu essen. Sie nannte sie »die Wölfe«. Eines Tages konnte sie aus der Dachkammer, in der sie eingesperrt wurde, entkommen und lief nach Hause zu ihrer Mutter. Erst da nahm sie das alte Gewehr der Familie vom Kaminsims und begann zu jagen.
Als Michael nach zwanzig Minuten wiederkam, war er immer noch aufgebracht.
»Die Altersgrenze für sexuelle Mündigkeit liegt in diesem Staat bei siebzehn Jahren«, berichtete er. »Siebzehn! Viel zu jung! Sollen wir mit deinen Verwandten in Murrayville reden? Vielleicht wäre es an der Zeit, deine Mutter ausfindig zu machen. Was zum Teufel ist eigentlich mit ihr los?«
Margo schüttelte den Kopf. Sie wollte nirgendwo hingehen, wo sie nicht erwünscht war.
Jeden Sonntag versuchte Michael sie zu überreden, ihn in seine »Hippie-Kirche« zu begleiten. Einmal war sie mitgekommen und hatte dem Pfarrer zugehört. Der Mann meinte es gut, das war ihr klar, aber er war so langweilig wie ein Lehrer. Die Gitarrenmusik hatte ihr gefallen, aber sie mochte es nicht, dass die Leute ihr anschließend alle die Hand schütteln und sich mit ihr unterhalten wollten. Sie habe nichts gegen Menschen, erklärte sie Michael, aber in der Kirche gäbe es zu viele von ihnen auf einem Haufen. Für ihn war es in Ordnung, dass sie nicht mitkam, aber er war enttäuscht, dass sie nicht zu seiner Gemeinde gehören wollte. Und es enttäuschte ihn, dass sie keinerlei Interesse für die Schule aufbrachte. Er war der Ansicht, dass Margo sich im Leben Ziele setzen sollte – als wären das Leben am Fluss, das Angeln, Schießen und Sammeln von Beeren, Pilzen und Nüssen nicht genug!
»Gehst du mit mir schwimmen, wenn es wärmer wird?«, fragte sie ruhig, um das Thema zu wechseln.
»Ich bin kein guter Schwimmer … Vielleicht sollten wir heiraten«, sagte er unvermittelt und sah sie an.
»Warum?«, fragte sie.
» Warum? Aus einem einfachen Grund, und der heißt Liebe. Ich liebe dich, Margaret Louise«, sagte Michael. »Und vielleicht habe ich auch ein bisschen Angst, dass es falsch ist, was wir tun, wenn ich dich nicht heirate.«
»Müsste ich dann in die Kirche
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