Stromschnellen: Roman (German Edition)
folgen. Wie weit sie abgetrieben war, wusste sie nicht genau, aber wenn es drei Meilen waren, würde es ebenso viele Stunden dauern, an den Ausgangspunkt zurückzukehren. Um der Strömung auszuweichen, hielt sie sich so dicht am Ufer, wie es möglich war, ohne mit den Rudern über den Grund zu schrammen. Sie saß mit dem Rücken zum Bug, blickte in einen feurig-orangefarbenen Sonnenuntergang, und während die Farben allmählich verblassten, gewöhnten sich ihre Augen an die aufkommende Dunkelheit. Mit gleichmäßigem Schlag ruderte sie an im Dunkeln liegenden Ferienhäusern, an Baracken und steinalten Bäumen vorbei. Der schaurige Schrei einer Schwarzkehl-Nachtschwalbe machte ihr eine Gänsehaut. Eine Eule folgte ihr eine Weile mit wildem Geflatter. In einem Baum zeichnete sich die Silhouette eines großen Streifenkauzes ab. Bisamratten und andere nachtaktive Jäger ließen sich ins Wasser gleiten, kamen neben ihrem Boot an die Oberfläche und tauchten wieder ab. Als die Mondsichel aufstieg, steuerte Margo das Boot zwischen ein paar abgestorbene Bäume, um sich auszuruhen. Die Muskeln in ihren Armen brannten, die Hände waren von den Rudergriffen ganz rau, doch als sie spürte, wie die Nacht an ihrem Boot zog und sie in die dunkle, bequeme Strömung lockte, machte sie sich wieder auf den Weg.
Der Fluss machte eine Kurve und verengte sich ein wenig, und am nördlichen Ufer erblickte Margo eine ihr vertraute Bewässerungspumpe sowie ein paar Bootshäuser. Sie orientierte sich an den hellsten Sternen, bis diese hinter den Bäumen verschwanden.
Als die Hütte schließlich in Sicht kam, stellte sie fest, dass der MerCruiser immer noch am Steg lag. Also steuerte sie Michaels Floß an. Dort unterschätzte sie jedoch den Abstand zum Ufer und stieg in schenkeltiefes Wasser. Sie machte das Boot unter der Laufplanke fest, wo es weniger auffiel. Das Geräusch musste Michael oder King geweckt haben. Im Schlafzimmer ging das Licht an, und gleich darauf trabte King in den Hof und über die Planke aufs Floß. Margo tätschelte die Hündin und hielt die Marlin übers Wasser.
Sie sah, wie auch in der Küche das Licht anging, und watete ans Ufer.
Noch bevor sie anklopfen konnte, öffnete Michael die Küchentür. »Margaret!«, rief er.
»Kann ich ein paar Zündhölzer haben?«, war alles, was sie herausbrachte, denn sie wusste nicht, ob Michaels Einladung zum Abendessen noch galt. Sie hätte in der Auffahrt nach Danielles Wagen schauen sollen, bevor sie zur Tür ging.
»Komm rein, Margaret«, forderte Michael sie auf. Ihr Blick fiel auf die Uhr hinter ihm. Es war halb elf. »Draußen ist es kalt. Wie im Herbst.«
»Ist Danielle hier?« Margo presste die Zähne aufeinander. King stand neben ihr.
»Nein. Ich bin allein.«
»Ich hab King mitgebracht. Sie ist mir entgegengelaufen.«
Michael sah Margo an. »Was ist los? Willst du darüber reden?«
Margo zog die Schultern hoch, um ihr Zittern zu unterdrücken. »Die Insel mit den Weiden … Wenn du willst, rudere ich dich morgen hin«, schlug sie vor.
»Komm rein und lass uns reden«, wiederholte Michael, der im Türrahmen lehnte. »Erzähl mir von dem Mann in der Hütte.«
»Magst du Kanadareiher?«, fragte Margo. Sie fühlte sich taumelig, wie betrunken.
»Wer mag die nicht?«
»Auf Willow Island gibt es Dutzende von Reihern. Eine ganze Kolonie, sie leben in den Bäumen.« Sie stützte sich mit der Hand am Türrahmen ab. »Mir ist heute einer so nah gekommen, dass er mit den Flügeln mein Bein gestreift hat.«
»Die Geschichte von Leda und dem Schwan kennst du nicht, oder doch?«
Margo suchte nach dem richtigen Wort. »Reiherhorst« , korrigierte sie sich. »Reiher leben in einer Reiherhorstkolonie.«
»Kraniche mag ich auch. Die sind hier allerdings nicht so häufig, und die Weibchen sind sehr scheu. Jetzt wird’s aber Zeit, dass du reinkommst und dich aufwärmst.« Er zog an ihrem Handgelenk, ließ es aber sofort los, als er ihren Widerstand spürte. Er nahm ihre Hände. »Wenn du wirklich nicht reinkommen willst, gebe ich dir eben nur etwas Benzin für dein Boot, okay? Und eine Schachtel Streichhölzer hab ich auch für dich.«
»Danke«, sagte sie. »Weißt du, ich vermisse meinen Vater. Und meine Mutter. Sie will nicht, dass ich sie besuche.«
»Komm rein, Margaret. Wir können doch darüber reden.«
»Ich … Ich vermisse sie so sehr.« Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Michael oder sonst jemand verstand, wie schwer allein Brians Verlust für sie gewesen
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