Stromschnellen: Roman (German Edition)
sprang ans Wasser hinunter, kletterte auf der anderen Seite des Zauns die Böschung wieder hoch und stand auf einer Weide voll fetter Mastrinder. Eine nach der anderen sahen die Kühe auf und glotzten sie aus ihren weißen, braunen oder schwarzen Gesichtern an, dann grasten sie weiter. Als ein braun-weißgeflecktes Herefordrind sie anstarrte und den Kopf zurückwarf, malte sie sich aus, wie es wäre, es aus nächster Nähe zu schießen. Ob sie eine Kuh mit ihrem knochigen Schädel durch einen Schuss ins Auge töten konnte? Margo war klar, dass das Töten und Verzehren von Fremdvieh einen Haufen ganz eigener Probleme nach sich ziehen würde, also verwarf sie die Idee wieder. Im Zickzack, um den Kuhfladen auszuweichen, bahnte sie sich ihren Weg über die Weide.
Am hinteren Ende bückte sie sich und schlüpfte zwischen den Strängen eines nicht unter Strom stehenden Stacheldrahts hindurch. Hier machte der Fluss eine Biegung. In der Nähe einer Sandbank, auf der Margo die Fährten von Wasservögeln entdeckte, ragte ein Dutzend Eichen aus dem hohen Gras. Ein Stück weiter lag eine Ansammlung von Häusern. Margo ging auf dem überwucherten Pfad weiter, bis er vom Fluss fort und zu einer befestigten Straße führte. Diese gabelte sich, ein Teil endete in einer Sackgasse an einem heruntergekommenen Haus, der andere beschrieb eine Kurve und verlief parallel zum Fluss oberhalb einer Häuserzeile. Im Garten des ersten Hauses erblickte Margo unten am Wasser einen Wohnwagen, der etwa so groß war wie der kleinere der Slocums. Ein niedriger Metallzaun umgab ihn. Daneben standen zwei Plastikeimer. Auf dem eingewachsenen Grundstück gab es ein halbes Dutzend Gartenfiguren aus Beton. Längs zur Ufermauer befand sich ein etwa zwölf Fuß langer und fünf Fuß breiter Holzsteg, an dem ein Aluminiumruderboot mit abgedecktem Außenborder festgemacht war. Margo empfand die Bescheidenheit des Hauses und die ländliche Umgebung als tröstlich.
Auf der mit Steinplatten gepflasterten Terrasse hinter dem Haus stand ein verwaister Rollstuhl. Der Garten war vom Nachbargrundstück durch einen hölzernen Sichtschutz getrennt, hinter dem Margo den Dachstuhl eines neueren, mit Zedernschindeln verkleideten Hauses erblickte. Das Bewusstsein, dass sie hier niemand erkennen würde, rief in ihr ein Gefühl von Freiheit hervor. Sie war nur fünfundvierzig Meilen flussabwärts von Murrayville, aber sie hatte noch nie gehört, dass die Murrays – aus welchem Grund auch immer – über das Wehr hinaus oder gar bis Kalamazoo gefahren wären. Da sie weit und breit niemanden sah, betrat sie die Terrasse und folgte den steilen Stufen zum Fluss hinunter. Auf der Rückseite des Campingwagens prangte in stilisierten Druckbuchstaben PRIDE & JOY . Wie sich herausstellte, stand er nicht etwa am Ufer, sondern auf einer auf dem Wasser schwimmenden Plattform. Er bildete sozusagen die Kajüte eines an der Ufermauer vertäuten Bootes. Neben dem Wohnwagen lag ein großer schwarzer Hund. Er stellte die Ohren auf, als Margo näher kam. Durch einen Durchlass im verzinkten Metallzaun trat sie aufs Boot. Es schwankte kaum unter ihren Füßen. Die Eimer standen hinter dem Hund.
»He, du«, sagte sie und bellte. Der Hund legte den Kopf schief. »Du wiegst doch bestimmt fünfzig Kilo.«
»Ist da draußen jemand?«, rief eine schwache Stimme.
Margo spähte durch ein Fenster mit Vorhang ins Innere des Wohnwagens. Sie erkannte ein Miniaturspülbecken, kleine Geschirrschränke und einen winzigen Holzofen. Plötzlich tauchte ein blasses, halb von einer Sonnenbrille verdecktes Gesicht vor ihr auf. Margo entfuhr ein kurzer Aufschrei, und auch der Hund stieß ein Jaulen aus.
»Zieh an der Tür! Ich krieg sie nicht mehr auf!«
Margo drehte den Türknauf aus Aluminium und zerrte daran, bis die Tür aufging und den Blick auf einen alten Mann mit dichter silberner Mähne freigab. Er lehnte im Türrahmen.
»Ich hab nur Ihren Hund gestreichelt«, entschuldigte sich Margo.
»Solange er nicht aus dem Fluss trinkt …«
»Warum soll er nicht daraus trinken?«
»Weil er verschmutzt ist.«
»Wohnen Sie in diesem Wohnwagen?« Margo warf einen Blick auf die Häuser flussaufwärts und am anderen Ufer. Alle drei wirkten gepflegt, bei zwei von ihnen war im Garten ein kleines Boot aufgebockt. Am Nachbarhaus entdeckte sie ein Kanu, das umgedreht an eine Eiche gekettet war. Die Kette sah aus, als wäre sie in die Baumrinde eingewachsen.
»Hilf mir bis auf die Terrasse!«, verlangte der Mann.
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