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Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bonnie Jo Campbell
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ihr gebeugtes Knie, entnahm das Röhrenmagazin, schob eine ihrer neun verbliebenen Patronen hinein, setzte das Magazin wieder ein und lud die Waffe mit dem Hebel durch.
    Dann hob sie die Marlin an die Schulter, presste die Wange daran, atmete einmal ein und aus und feuerte. Ihr war sofort klar, dass sie den Finger zu schnell vom Abzug genommen hatte. Wahrscheinlich hatte sich dadurch die Mündung, als die Kugel aus der Kammer trat, ein kleines Stück nach oben bewegt.
    »Leider verloren«, meinte er.
    Sie hatte befürchtet, ihr Zielvermögen könnte in den vergangenen Monaten gelitten haben, weil sie keine Papierscheiben mehr besaß, an denen sie das Ergebnis ablesen konnte. Andererseits hatte sie mit hoher Trefferquote auf grasende Kaninchen geschossen. Mr   Peake hatte immer gesagt, jeder Treffer sei eine Frage der Wahrscheinlichkeit, und Margo wusste, dass gelegentliche Fehlschüsse dazugehörten.
    »Warten Sie«, sagte sie. »Ich habe gesagt, einen Schuss für die Milchorange. Für die Eichel kriege ich zwei.«
    »Okay, einen noch, aber mehr nicht.«
    Sie schob noch eine Patrone in die Marlin. Der Indianer sah ihr dabei zu. Die restlichen sieben Stück befanden sich in ihrer Tasche.
    »Sie stehen zu dicht neben mir«, sagte sie und wedelte mit dem Arm.
    Er machte einen übertrieben großen Schritt rückwärts. Margo legte an, merkte aber, dass das Gewehr leicht wackelte. Mr   Peake hatte ihr geraten, erst zu schießen, wenn sie sich ihrer Sache sicher war. Also ließ sie die Arme sinken, hielt das Gewehr locker in der rechten Hand und blickte auf den Fluss neben sich. Als Kind hatte sie nie vom Stark River weggewollt, aber jetzt, ohne ihren Vater und ohne ihr Boot, hatte sie das Gefühl, es hier nicht einen Tag länger auszuhalten. Wenn sie nicht mit dem Indianer mitfahren konnte, würde sie eben zu Fuß gehen.
    Sie nahm das Gewehr in die linke Hand und schüttelte die rechte aus. Es gab keinen Grund, den Schuss zu verpatzen, nur weil jemand zusah. Das Wettschießen bei der Landjugend hatte sie gewonnen, obwohl viele Zuschauer dabei gewesen waren. Es war zwei Monate her, seit sie bei Michael mit Papierzielscheiben geübt hatte, aber sie hatte damals gut geschossen, besser als je zuvor in ihrem Leben. Sie lockerte die Schultern und holte tief Luft, um den Herzschlag zu verlangsamen.
    Margo sah sich den Zaunpfosten von unten nach oben genau an. Es handelte sich um eine ausgediente Bahnschwelle, die etwa so groß war wie sie selbst. Dann fasste sie die grüne Frucht mit der Eichel darauf in den Blick. Dahinter dehnte sich der glatte Fluss. Sie wickelte die Gewehrschlaufe um die linke Hand und den Ellbogen und drückte sich dagegen, schmiegte den Kolben an die Schulter und presste die Wange daran. Stand und Griff waren jetzt stabil. Der Indianer war verschwunden, und sie war mit ihrem Gewehr und ihrem Ziel allein. Margo blickte durchs Visier. Ihr Lehrer hatte vom »Wackeln« beim Zielen gesprochen und davon, dass kein Mensch das Gewehr absolut ruhig halten könne, aber bei Margo gab es normalerweise immer einen Augenblick, in dem sie wie jetzt das Gefühl hatte, fest mit diesem Planeten verwurzelt zu sein. Ohne bewusste Willensentscheidung zog sie langsam den Abzug durch und ließ den Finger darauf liegen, als das Gewehr die Kugel durch den Lauf zur Eichel schickte. Ihr war klar, dass der Schuss sitzen würde. Sie rührte sich auch dann noch nicht, als sie ein Geräusch hörte, das wie das letzte harte Klopfen eines Spechtschnabels auf einem Eichenast klang.
    Zusammen gingen sie zum Pfosten und stellten fest, dass die Eichel weg und die große Frucht unberührt war.
    »Hoppla!«, entfuhr es dem Indianer. »War das ein Glückstreffer?«
    Margo schüttelte den Kopf – es sei denn, man betrachtete Können und Wahrscheinlichkeit als Glück. Als sie tief durchatmete, bemerkte sie, dass er sie eindringlich ansah.
    »Du hast eine ganz besondere Gabe«, behauptete er. Er schnappte sich die Milchorange und schnupperte erneut daran. »Sie ist genauso viel wert, als könntest du eine mathematische Formel herleiten. Ich glaube, ich leg das Ding in mein Auto, um die Spinnen zu vertreiben. In diesem Staat hier gibt’s höllisch viele Spinnen.«
    Margo hängte sich die Marlin über die Schulter und ging zurück zu ihrem Rucksack.
    Der Mann kickte mit der Fußspitze gegen den Boden, drehte sich zu ihr um und brach in Gelächter aus. »Ich muss den Verstand verloren haben. Wenn mich die Polizei anhält, sage ich einfach: Mist,

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