Stromschnellen: Roman (German Edition)
überhaupt nicht ähnlich sah. Ihr Großvater war ein hochgewachsener Mann mit Hakennase und grauem Bart gewesen, während dieser Alte gedrungen war und ein rundes, rasiertes Gesicht hatte. Aber etwas hatten sie gemein: Er würde bald sterben, und zwar so sicher, wie ihr Großvater im Sterben gelegen hatte.
»Schieß endlich, gottverdammt!«, brummte er.
Das Beben seines Unterkiefers nahm sie ebenso wahr wie ihren eigenen Atem und Herzschlag. Er knurrte dem Hund zu: »Schon gut, Junge.«
Margo war klar, dass der Schuss sitzen musste, das war sie dem alten Mann und sich selbst schuldig. Sie schob die Hand durch den Riemen und schlang ihn fest um ihren linken Arm. Das glühende Zigarettenende war ihr mittlerweile genauso vertraut wie ihr Finger am Abzug. Auf der Welt gab es nur noch sie, ihre Büchse und ihr Ziel. Sie atmete aus und drückte ab. Sie hielt das Gewehr ruhig, als die Kugel erst aus der Kammer und dann aus dem Lauf trat, und hörte, wie sie seitlich in die Garage einschlug, dann herrschte Stille. Margo schloss die Augen, und als sie sie wieder öffnete, saß der alte Mann nach vorn gekippt im Rollstuhl. Sie sprang auf, lief zu ihm und schob ihn an den Schultern zurück, um ihm ins Gesicht zu sehen. Tränen liefen aus seinen nackten Augen. Zwischen seinen Lippen steckte ein Zigarettenstummel. Als sie den Alten losließ, lachte er mit leisem Kollern, und der Hund schnüffelte an seiner Hand.
»Du hast mich nicht verarscht, du kannst wirklich schießen«, sagte er zwischen zwei Atemzügen. Er setzte die Brille wieder auf. »Natürlich hab ich gehofft, dass du danebenschießt und mir eine Kugel in meinen verfluchten Schädel jagst.«
Margo ging ins Haus, zog die Papiertüte mit dem Abfall aus dem Einmachtopf und steckte sie in einen tönernen Gurkentopf.
»Der Deckel ist im Schrank links unten vom Herd, und den Topf spülst du besser aus, wenn du darin kochen willst. Du bist ganz schön schmutzig, Kleine. Badest du nie?«
»Ich wohne bei einem Freund.«
»So, so, bei einem Mann.«
Sie nickte.
»Dachte ich mir. Nun, wie man sich bettet, so liegt man.« Er drehte das Gesicht zum Fluss und redete weiter: »Mädchen in deinem Alter sollten sich nicht rumtreiben. Du solltest nach Hause zu deiner Mutter.«
»Meine Mutter will mich nicht.« Es laut auszusprechen tat weh.
Der Mann fasste mit der Hand an die Brille, als wollte er sie wieder abnehmen, berührte sie aber nur kurz und ließ die Hand zurück in den Schoß fallen. »Wenn du duschen willst, musst du mich fragen.«
»Darf ich bei Ihnen duschen, Sir?«, fragte Margo.
»Du darfst. Aber bring bloß deinen Freund nicht mit. Mein Hund würde ihn beißen.« Er kramte das Feuerzeug und eine Zigarette aus der Tasche am Rollstuhl und zündete sie an. Nachdem er einen Zug gemacht hatte, klang seine Stimme ruhiger. »Meine letzte Zigarette. Es sei denn, du hast welche.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab seit zwei Monaten nicht mehr warm geduscht. Wir schlafen draußen am Fluss, auf dem Land eines Farmers.«
»Junge Mädchen sollten sich vor Männern vorsehen«, sagte der Alte und lächelte ein wenig. Durch den geöffneten Mund sah man, dass er oben keine Zähne mehr hatte, was ihm Ähnlichkeit mit einem kleinen Kind verlieh. »Selbst ich bin vielleicht nicht so harmlos, wie ich aussehe.«
Er legte die filterlose Zigarette beiseite und atmete ein paarmal durch die Nasenschläuche ein. Dann stellte er das Sauerstoffgerät ab und zog wieder an der Zigarette. »Aber hab keine Angst, und außer mir ist niemand hier.«
Die Küche, der erste Raum hinter der Terrasse, war mit Geschirr, Büchern, Papieren und Werkzeug vollgekramt, die Diele ebenso. Alle Fenster waren geschlossen. Eigentlich hatte Margo sich ruck, zuck duschen wollen, aber dann konnte sie sich nicht dazu durchringen, den Hahn wieder zuzudrehen – bis das warme Wasser ausging. Skeptisch beäugte sie die Handtücher an den Stangen und an der Rückenlehne des Stuhls neben der Wanne. Dann griff sie nach dem einzigen gefalteten Handtuch ganz hinten im Schrankfach. Es roch ein bisschen muffig, wirkte aber sauber. Als sie sich wieder angezogen hatte und die Badezimmertür öffnete, stellte sie fest, dass der Hund dahinter wartete. Er folgte ihr auf die Terrasse. Der alte Mann saß zusammengesackt in seinem Rollstuhl und schlief. Das Sauerstoffgerät hatte er wieder eingeschaltet.
Entweder sie ging zurück zu ihrem Lager, oder
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