Stromschnellen: Roman (German Edition)
Mathekonferenz. Morgen reise ich ab. Warum gehst du eigentlich nicht aufs College?«
»Ich hab die Highschool nicht fertig gemacht.«
»Ohne Schulabschluss kommt man im Leben nicht weiter.«
»Ich will gar nicht weiterkommen. Was ist so toll daran?«
»Ich bin gern zur Schule gegangen«, erklärte er. »Zu Hause habe ich mich tödlich gelangweilt. Ich war Einzelkind, und meine Adoptiveltern waren alt und dröge.«
»Als ich noch klein war, mochte ich die Schule auch. Aber in der Mittelstufe wurden die anderen Kinder fies, und ich hab nicht kapiert, was die Lehrer von mir wollten. Ich war ihnen zu still.«
»So still finde ich dich gar nicht.« Er aß noch ein Stück Ente und meinte dann: »Ich dachte immer, Entenfleisch wäre zart.«
»Nicht das von einem alten Erpel.« Tapfer kaute Margo das zähe, leicht tranige Fleisch.
Nach dem Essen legte sie das restliche Fleisch, die Knochen und die Teile der Flügel, die sie hatte rupfen können, in den Topf. Sie goss Wasser aus den Kanistern des Indianers hinzu und stellte den Topf zum Köcheln aufs Feuer. Danach trug sie haufenweise Fichtennadeln, die sich unter dem Dolchfarn im Windschutz angesammelt hatten, zur Feuerstelle und bereitete ihnen daraus weiche Schlaflager. Sie rollten ihre Schlafsäcke auf gegenüberliegenden Seiten des Feuers aus. Der Indianer förderte eine Plastikflasche zutage, deren Deckel mit Kreppband zugeklebt war. Der Flascheninhalt hatte die Farbe von Apfelsaft. Er schraubte den Deckel auf und nippte an der breiten Öffnung. Sein ganzer Körper erschauerte, als er schluckte. »Schmeckt bitter. Herb. Ist sicher noch was andres drin außer Maische.«
»Sie müssen es doch nicht trinken, wenn es Ihnen nicht schmeckt, oder?«, fragte Margo.
»Ich habe nicht gesagt, dass es mir nicht schmeckt. Hier, probier mal.«
Sie schüttelte den Kopf, aber er hielt ihr die Flasche beharrlich hin und sah Margo an, bis sie sie nahm und an die geschlossenen Lippen setzte. Das Zeug brannte schlimmer als angesaugtes Benzin. Sie gab ihm die Flasche zurück.
»Ich darf höchstens die Hälfte davon trinken«, sagte er. »Versprich mir, dass du mich stoppst, wenn die Flasche halb leer ist. Wenn du mir das versprichst, erzähle ich dir eine Geschichte.«
Margo nickte. Im Feuerschein konnte sie sein Gesicht in allen Einzelheiten erkennen. Er hatte breite Wangenknochen, und seine Züge wirkten weich, wie seine Hände.
»Mein Cousin hat mir die Geschichte erzählt, und er hat sie von seinem Großonkel. Wahrscheinlich hat sie sich hier an diesem Fluss abgespielt. Sie handelt von einer jungen Frau im heiratsfähigen Alter, also etwa deinem Alter. Sie pflanzte gern Mais, Bohnen und Kürbis an. Ein junger Mann von einem anderen Stamm, der einen einwöchigen Fußmarsch entfernt lebte, wollte sie heiraten, aber bei ihm gab es keine Gärten, denn das Land war waldig und der Boden steinig. Er sagte ihr, dass sie als seine Frau im Wald nach Nahrung suchen, seine Kleider nähen, ihre gemeinsamen Kinder aufziehen und Fleisch für den Winter haltbar machen würde.« Der Indianer musterte Margo, um sich zu vergewissern, dass sie zuhörte. Er streckte die Hand aus, berührte ihr Haar an der Schulter und strich es glatt.
»Die Vorstellung, das Gärtnern aufzugeben, brach ihr das Herz. Sie sagte, sie müsse mit der Heirat bis nach der Maisernte warten.« Er trank noch einen Schluck Whiskey, und wieder erschauerte er.
»Es war eine reiche Ernte, und der Mais wuchs ständig nach. Niemand konnte es sich erklären, aber an den bereits abgeernteten Stängeln sprossen neue Kolben und reiften innerhalb von Wochen statt Monaten. Nur die junge Frau wusste, dass die Maiskolben aus den Stücken ihres gebrochenen Herzens entstanden und die Griffel aus Strähnen ihres Haars gemacht waren. Sie wusste, dass von ihrem Herzen bald nichts mehr übrig sein würde, und dann würde sie den Mann heiraten und fortgehen müssen.«
»Und sie würde eine Glatze haben«, bemerkte Margo.
»Allerdings«, antwortete der Indianer, der ihr offenbar nicht zugehört hatte. Er nahm noch einen Schluck. »Als von ihrem Herzen schließlich nichts mehr da war, stürzte sie sich in den Fluss und ertrank. Eine Beutelratte schleppte ihre Leiche an Land, und ihre Familie beerdigte sie in ihrem Garten. Der Mais wuchs und gedieh über ihrem Leichnam, und selbst nachdem die Weißen die Indianer nach Kansas vertrieben hatten, wuchs er weiter. Die Farmer versuchten Weizen für ihr Brot und Hafer für ihre Pferde anzubauen,
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