Studio 6
werden?«
Patricia sah Annika feindselig an.
»Jossie ist superschlau«, sagte sie. »Sie hat in fast allen Fächern die beste Note bekommen. Schwedisch ist ihr bestes Fach, sie schreibt einfach toll. Du glaubst wohl, sie ist ein wenig blöd, nur weil sie als Stripperin arbeitet, oder?«
Sie sah trotz der Dunkelheit, dass die Journalistin rot wurde.
»Ich habe mit dem stellvertretenden Rektor ihrer Schule gesprochen. Er meinte, ihre Noten seien nicht besonders gut gewesen«, entschuldigte Annika sich.
»Dann hatte er sicher Vorurteile«, sagte Patricia.
»Hatte sie viele Freunde?«
»In der Schule, meinst du? Fast keine. Jossie hat die meiste Zeit gelernt.«
Sie gaben sich die Hand, und Annika machte die Tür auf. Im Weggehen hielt sie noch einmal inne.
»Warum bist du hierher gezogen?«, fragte sie.
Patricia schaute zu Boden.
»Jossie wollte es«, sagte sie.
»Warum?«
»Sie hatte Angst.«
»Wovor denn?«
»Das kann ich nicht sagen.«
Patricia sah der Journalistin an, dass sie dennoch begriffen hatte.
Annika trat in das gleißende Sonnenlicht auf der Dalagatan hinaus und blinzelte gegen die Sonne. Es war befreiend, aus der dunklen, stickigen Wohnung zu kommen. Schwarze Vorhänge, das war ja fast makaber. Es gefiel ihr nicht, was sie herausbekommen hatte. Die Wohnung von Josefine gefiel ihr nicht, und sie begriff nicht, wie man freiwillig Stripperin werden konnte.
Wenn es denn freiwillig war, dachte sie dann.
Die U-Bahn-Station lag direkt um die Ecke, und sie fuhr zwei Stationen zum Fridhemsplan. Dort ging sie die Sankt-Eriksgatan hinauf, am Fitnessstudio vorbei, wo Josefine und Patricia sich kennen gelernt hatten, und bog anschließend nach rechts zum Tatort ab. Am Eingang lagen zwei Blumensträuße, und Annika nahm an, dass bald noch weitere folgen würden. Sie blieb einen Augenblick am Zaun stehen. Es war mindestens so warm wie gestern, und sie wurde schon wieder durstig. Als sie gerade weggehen wollte, kamen zwei junge Frauen, eine mit hellen und eine mit dunklen Haaren, langsam vom Drottningholmsvägen herauf. Annika entschloss sich zu bleiben. Die beiden trugen die gleichen kurzen Röcke und hohen Absätze. Sie kauten Kaugummi und hielten beide eine große Cola in der Hand.
»Hier ist gestern ein Mädchen ums Leben gekommen«, sagte die Blonde und zeigte zwischen die Gräber, als sie an Annika vorbeigingen.
»Nee, echt?«, fragte die Dunkle und machte große Augen.
Die Erste nickte eifrig und wedelte mit der Hand.
»Sie lag da drüben. Als sie tot war, ist sie vergewaltigt worden.« »Wie entsetzlich«, sagte die Dunkle, und Annika sah, wie ihr die Tränen in die Augen traten.
Sie blieben ein paar Meter entfernt stehen und schauten andächtig in die tiefgrünen Schatten hinein. Kurze Zeit später weinten sie beide.
»Wir müssen einen Gruß hinterlassen«, sagte die Blonde.
Sie kramten einen Kassenzettel aus einer Tasche, in einer anderen fanden sie einen Stift. Die Blonde schrieb den Gruß, wobei sie den Rücken der anderen als Unterlage benutzte. Dann trockneten sie ihre Tränen und gingen zur U-Bahn hinunter.
Als sie um die Ecke verschwunden waren, ging Annika hin und las den Zettel.
»Wir vermissen dich«, stand dort.
Im selben Moment sah sie das Reportageteam der Konkurrenz am Spielplatz an der Kronobergsgatan aus einem Auto steigen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging schnell die Straße hinunter, denn sie hatte wirklich keine Lust, einen Small-Talk mit Arne Påhlson zu halten.
Auf dem Weg zur Linie 56 kam sie am Eingang zu dem Haus von Daniella Hermansson vorbei, der forschen Mutter, die immer mit offenem Fenster schlief. Sie fischte den Block aus der Tasche – ja, sie hatte den Türcode neben die Adresse von Daniella geschrieben. Ohne lange nachzudenken, tippte sie den Code in die Schließanlage neben der Tür ein und betrat das Treppenhaus.
Der Luftstrom, der ihr entgegenschlug, war so kühl, dass sie schauderte. Sie blieb stehen und hörte die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Das Treppenhaus war mit Malereien aus den vierziger Jahren – wahrscheinlich das Baujahr des Gebäudes – dekoriert, die Motive aus dem nahen Park trugen.
Daniella wohnte im zweiten Stock auf der rechten Seite.
Annika nahm den Lift. Niemand öffnete. Sie schaute auf ihre Armbanduhr, es war zehn nach drei. Wahrscheinlich war Daniella mit dem Schätzchen irgendwo im Park.
Annika ließ die Schultern hängen. Bisher war der Tag nicht sehr ergiebig gewesen. Sie sah sich im Treppenhaus um.
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