Stürmische Eskapaden - Lady in Waiting (Featherton 2)
ihren Arm, zwang sie zum Stehenbleiben und wirbelte sie zu sich herum. »Warum laufen Sie denn weg? Das war doch nur ein harmloser Damhirsch.«
Jenny schaute sich um und sah das Tier nunmehr an einer spärlichen Grasnarbe zupfen, die aus der kalten Erde ragte. War er blind? Da war nichts Harmloses an dieser Kreatur.
Sie studierte das anmutige Tier, während sich ihr Atem langsam beruhigte. Das war also ein Hirsch. Himmel, sie führte sich auf wie eine dumme Gans. Aber woher sollte sie auch wissen, wie ein Hirsch aussah? Sie war schließlich ein Stadtmensch und hatte ihr ganzes Leben in London und Bath verbracht. Der einzige Hirsch, den sie je gesehen hatte, hatte als Wildbraten am Spieß in der Küche gebrutzelt.
Callum sah sie tadelnd an. »Sie haben Angst vor einem Damhirsch?«
»Seien Sie nicht lächerlich. Natürlich nicht!« Jenny schüttelte
seine Hand vom Ärmel ihres Mantels und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das Untier … hat mich erschreckt, mehr nicht.«
»Das Untier. Ah, ich verstehe.« Callums Augen blitzten schelmisch, doch er ließ das Thema höflich fallen und schaute stattdessen zu den Hügeln in der Ferne, bis Jenny sich wieder beruhigt hatte.
Er bot Jenny abermals seinen Arm an, und gemeinsam schlenderten sie zum Herrenhaus.
»Ist das Anwesen nicht wunderschön?«
»Das ist es. Es ist fast so, als wäre ich daheim im Hochland.« Callum atmete tief ein, während sie dahinspazierten, beinahe so, als hoffe er, in der Dyrhamer Luft einen Hauch von Heide zu finden.
»Vermissen Sie Schottland?«
»Ja. Doch das Werk, das ich zu verrichten habe, ist hier, und bis es erledigt ist, kehre ich nicht nach Hause zurück.«
»Wirklich?« Hier war die Gelegenheit, auf die Jenny gehofft hatte - ihre Chance, das Geheimnis um Lord Argyll zu lüften. »Was für eine Art von Werk ist das denn?«
Callum blieb stehen. Er drehte Jenny zu sich um und seufzte tief, bevor er sprach. »Ich bin hierher, nach Bath, gekommen, um mehr über meine Mutter herauszufinden.«
Jenny sagte nichts, denn sie wusste, dass es Callums Bereitwilligkeit, ihr mehr zu erzählen, ein abruptes Ende setzen könnte.
Callum fasste sie am Ellbogen und führte sie zu einer taillenhohen Gartenmauer, die außer Sichtweite der Feathertons war, dann hob er Jenny hoch und setzte sie darauf.
»Als ich noch ein kleiner Junge war, erwachte ich eines Morgens und musste mit ansehen, wie meine Mutter fortging. Jede Truhe, jeder Reisekoffer, den sie besaß, war mit ihren Sachen vollgestopft.« Er sprach sehr bedächtig. »Ich
wusste, dass sie nicht zurückkommen würde, und ich bin weinend zu ihr gelaufen. Ich habe sie angefleht, nicht fortzugehen oder, wenn schon, mich wenigstens mitzunehmen. Doch sie wollte es nicht.«
Callums Augen schimmerten dunkel von den hochwallenden Erinnerungen, und seine Stimme war belegt. »Sie hat mir versprochen, sie würde zurückkommen - um meinet willen. Doch ihre Augen waren rot und geschwollen, so als hätte sie die ganze Nacht über bittere Tränen vergossen.«
Er nahm Jennys Hände in die seinen und drückte sie. Er schluckte mühsam, sagte aber nicht mehr.
»Und ist sie zurückgekommen?«, fragte Jenny sanft.
»Nein. Ich habe sie nie wiedergesehen.« Seine Stimme war so leise, dass Jenny ihn kaum verstehen konnte.
»Nach einigen Wochen hat mein Vater mir gesagt, sie wäre gestorben.«
»Wie schrecklich für Sie.«
»Ja, es war schrecklich. Aber nicht die Wahrheit.« Callums Blick wanderte zum Horizont. »Eines Abends fand ich in seinem Zimmer einen Brief, den sie mir geschrieben hatte, und dann einen Monat später noch einen, und da wusste ich mit Gewissheit, dass er gelogen hatte.«
Jenny gab unwillkürlich einen bestürzten Laut von sich, doch Callum fuhr fort.
»Obgleich ich nur ein kleiner Knabe war, schalt ich meinen Vater einen Lügner und schleuderte ihm die Briefe ins Gesicht. Da hat er mir eine Ohrfeige versetzt, so heftig, dass sein Lord-Lyon-Siegelring mir das Gesicht aufkratzte.«
Unbewusst strich er mit seiner Faust über seine Wange. Als er seine Hand wieder sinken ließ, bemerkte Jenny zum ersten Mal die weißliche Narbe knapp über seinem Wangenknochen.
»Ich habe nicht geweint, und ich habe mich nicht für meine
Worte entschuldigt. Also hat er mich wieder geschlagen, bis ich blutete. Und so ging es jahrelang weiter. Bis ich eines Tages endlich seinen Worten glaubte, denn ich wusste, dass meine Mutter niemals zugelassen hätte, dass mein Vater mir über so lange Zeit
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