Stuermischer Zauber
genoss. Ihre Lebensgeister erwachten, als sie eine lachende Menge entdeckte, und zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Mutter fühlte sie sich wieder jung. Sie konnte so verspielt und albern wie Sally sein, wenn sie wollte. Sie konnte mit mysteriösen Fremden flirten. Das würde ihr helfen, diesen leidigen Schotten zu vergessen.
Etwas beklommen meinte Sally plötzlich: »Wenn so viele Leute hier sind, wird William mich vielleicht gar nicht finden.«
»Dein Vater ist nicht schwer auszumachen«, tröstete Gwynne sie. »William wird ihn erkennen und wird schon im nächsten Augenblick vor dir stehen.«
Und tatsächlich näherte sich ihnen ein schneidiger, maskierter Kavalier, als sie die Loge betraten, die Sir George für diesen Abend gemietet hatte. Er verneigte sich, und die Federn seines Hutes berührten den Boden, als er mit dem Arm eine weit ausholende Bewegung machte. »Welch perfektes Bild ländlicher Schönheit Ihr seid, meine kleine Schäferin«, sagte er mit Williams Stimme. »Vielleicht sollte ich Euch einfach klauen.«
Als Sally kicherte, bemerkte Anne: »Na schön, aber seht zu, dass Ihr sie vor Mitternacht zurückbringt, edler Herr. Oder Ihr seht Euch dem Zorn einer Mutter ausgesetzt.«
Er grinste und küsste ihre Hand, ehe er Sally seinen Arm anbot. Als das junge Pärchen verschwand, wandte Sir George sich an Gwynne. »Würde es Euch etwas ausmachen, wenn ich meine Frau Gemahlin für einen kleinen Spaziergang entführe?«
Das Strahlen in Annes Augen zeigte, dass nicht nur die jungen Leute die gewagte Atmosphäre aufregend fanden. Aber sie zögerte, als sie Gwynne ansah. »Wir sollten unseren Gast nicht allein lassen.«
»Unsinn!«, widersprach Gwynne. »Norcott wird auf mich aufpassen, und ich bin in der Loge sicher genug, bis Ihr zurückkommt. Ich werde der Musik lauschen und den Leuten zuschauen, die vorbeikommen. Wirklich, ich werde das durch und durch genießen.«
»Wenn Ihr sicher seid …«, sagte Anne, die sich nur zu gern davon überzeugen ließ.
Gwynne machte eine scheuchende Handbewegung. »Ab mit Euch! Ihr habt keinen Grund, Euch zu beeilen. Mir wird es gut gehen.«
Die Tuckwells schlenderten Arm in Arm davon. Gwynne vermutete, dass sich bei ihrer Rückkehr Grashalme auf Annes Domino befinden würden. Vielleicht trug die ältere Frau aus diesem Grund Grün? Sie lächelte still in sich hinein und wandte sich zu der Loge um. Dann zögerte sie. Die Loge wäre sicheres Terrain, aber sie hatte bereits viel zu viel Zeit ihres Lebens als stummer Beobachter verbracht. Der Lustgarten rief nach ihr und ermutigte sie, umherzuwandern, zu entdecken und am Leben teilzunehmen.
»Norcott, ich denke, ich sollte auch einen kleinen Spaziergang unternehmen. Wirst du mir in angemessener Entfernung folgen, damit niemand sieht, dass du ein Auge auf mich hast?«
Dem Lakai, einem gesetzten Mann in mittleren Jahren, schien der Gedanke nicht zu behagen. »Für eine Frau schickt es sich nicht, allein umherzugehen. Das legt nahe, dass sie … dass sie nach Gesellschaft sucht.«
»Mir wird nichts passieren, solange ich auf den beleuchteten Wegen bleibe. Und falls jemand versucht, mir ungewollte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, wirst du ja da sein.«
Er neigte seinen Kopf, doch in seiner Stimme lag noch immer ein Zeichen der Missbilligung. »Wie Ihr wünscht, Mylady.«
Auch wenn sie wusste, dass Norcott hinter ihr war, verminderte dieses Wissen nicht das herrliche Gefühl der Freiheit, das Gwynne erfüllte, als sie auf dem kiesbestreuten Weg ausschritt. War sie je zuvor an einem belebten Ort wie diesem allein gewesen? Nicht, soweit sie sich erinnern konnte. Sie war froh, denn sie trug ein bequemes Kleid, mit dem sie leicht gehen konnte. Gwynne legte ein flottes Tempo vor, als hätte sie ein bestimmtes Ziel. Auf diese Weise würde man sie nicht mit den schlendernden Liebesdienerinnen verwechseln, die den Kunden ihre Dienste anboten.
Ihre Strategie schien aufzugehen. Auch wenn der scharlachrote Domino vermutlich die Blicke auf sich zog, sprach niemand sie an. Sicher hinter ihrer Maske verborgen, studierte sie die Gärten und die anderen Lustwandler. Wie Sally es ihr versprochen hatte, gab es viel zu sehen, und Gwynne genoss es sehr, sich umzuschauen. Der griechische Tempel, in dem das Orchester aufspielte, war besonders glanzvoll. Kugelförmige Laternen beleuchteten die Bögen und Säulen des Gebäudes.
Die Menschen zu beobachten war sogar noch amüsanter. Die meisten waren offenbar anständige Bürger, die sich
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