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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina Stein
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mich gerichtet. Das Messer in seiner Hand hat zwei Klingen: eine zum Schneiden und eine zum Sägen.

Montag, Tag 4, Liam

    M it der Kamera in der Tasche ist es anders. Schon immer fühlte er sich auf diese Weise sicherer: Die Kamera wird zum Betrachter, er selbst steht dahinter, gewinnt an Distanz.
    Ängst – der Zettel mit diesem Wort war das Erste, was er fotografierte. Wie Kapitän und er Pfote halten, das Zweite. Sein Gesicht an diesem Morgen, das Dritte. Ihre Zahnbürste im Bad, das Vierte. Danach Marie vor dem Präsidium und das Schild Landeskriminalamt. Der Bau ist modern, von wegen verrauchtes Verhörzimmer. Von wegen 60er-Jahre-Schreibtischlampe, von wegen altes Mobiliar. Hier gibt es einen Empfang mit Marmorfront, die Beamten dahinter tragen keine Uniform, sondern Jeans.
    Liam und Marie warten und schauen auf ihre wippenden Füße, beide haben Flipflops an, als hätten sie sich abgesprochen. Marie trägt einen Rock, ihre Beine sind glatt, ihm fällt das Mädchen vom Fluss ein, ihre makellose Haut. Doch Maries Beine haben rote Punkte, vielleicht vom Rasieren, und sind stämmiger. Sie reden kaum. Liam denkt an die Kamera in seiner Tasche, würde gerne auf Selbstauslöser stellen und sie fotografieren, ihre wartenden Gestalten. Doch Marie würde das seltsam finden. Ohnehin schien es ihr unangenehm zu sein, dass er sie vor dem Gebäude aufnahm, sie runzelte die Stirn, als er ihr erklärte, das wäre eine Art Dokumentation für Anna. Was daran so schwer zu verstehen ist. Er möchte, dass etwas bleibt.
    Kapitän hat er zu Hause gelassen. Ein paar Stunden hält es das Viech alleine aus: Das eine Fenster seiner Wohnung steht offen, er hat ihm extra einen Tisch davor gestellt, damit er raufspringen und rausschauen kann. Zwar wird er die Straße nicht sehen, die Witterung anderer Hunde ist vom 4. Stock aus unmöglich. Allenfalls in die Wohnungen gegenüber kann man schauen. Wer weiß, vielleicht wird ihm das alte Ehepaar von gegenüber zuwinken: Manchmal sitzen sie dort, zwei breite Kissen unter die Ellenbogen gestopft. Zeigen mit den Fingern auf die Leute, die sich in den Sexshop stehlen. Wie sie jedes Mal lachen und das Kinn wieder auf die Hand stützen.
    Er nimmt sich vor, sie zu fotografieren, wenn er wieder zu Hause ist.
    Ein Mann kommt und nennt ihre Namen, sie stehen auf und reichen ihm die Hand. Liam schätzt ihn auf Ende zwanzig, um die Augen hat er ein paar Lachfalten. Sie folgen ihm durch den Flur, das Licht spiegelt sich gleißend auf dem Marmorboden wider. Hinter einem Schreibtisch nimmt der Kommissar Platz und bietet Wasser an, Marie nickt stumm, schaut etwas konsterniert. Liam vermutet, dass sie genau wie er mit jemandem gerechnet hat, der mehr Erfahrung ausstrahlt, älter und seriöser wirkt. Während er ihnen Wasser einschenkt, betrachtet er sein Gegenüber: An seinem Gürtel hängt ein Handy, an seinem Handgelenk ein silberner Armreif mit einem Ornament, wie man es von Arschgeweihen her kennt, oder auch von Autoheckscheiben. Über einer verwaschenen Jeans trägt er ein Shirt, mit dem er geradewegs in die Disko marschieren könnte. Oder in die Mucki-Bude.
    »Okay«, beginnt der Kommissar. »Dann schildern Sie mal die Lage.«
    Liam nennt Annas Namen, ihr Alter, das Studium. Fährt fort mit Freitagabend, sein langes Warten, die Anrufe auf ihrem Handy. Dann Annas Wohnung, die verlassen wirkte, sie hat nichts mitgenommen, erzählt Liam.
    Der Kommissar wippt mit dem Fuß, signalisiert Ungeduld. Er will ein Foto von Anna sehen, und Liam zeigt ihm drei: Anna am Fluss, Anna im Profil, Anna, von oben bis unten, von hinten wie von vorn.
    »Hübsches Mädel«, bemerkt er und grinst, als würde er sich eine Bestätigung von Liam erhoffen. Der starrt sein Gegenüber an, ist versucht, ihn zu fragen, ob er noch alle Tassen im Schrank hat. Als wäre das hier ein Spaß. Als ginge es bloß um ein hübsches Mädchen.
    »Führen Sie die Ermittlungen eigentlich alleine?«, will er wissen. Dass seine Stimme gereizt klingt, versucht er gar nicht erst zu verbergen. Marie legt ihre Hand auf seine Stuhllehne, will signalisieren: Ruhig, Liam. Doch der Bulle bemerkt ohnehin nichts.
    »Nee. Ich nehm erst mal die Daten auf. Mach ein Gesamtbild und beurteile, ob eine unmittelbare Gefahr für die vermisste Person besteht. Suizid, gewalttätiges Fremdeinwirken? Beides würden Sie erst mal ausschließen?«
    »Ja«, antwortet Marie und versucht, irgendwie zu lächeln.
    Seine Frage hat er immer noch nicht richtig beantwortet, findet

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