Stumme Angst (German Edition)
sich etwas anmerken zu lassen. Doch im Prinzip ist es die Wahrheit. Im Prinzip hatte sie ihn bloß kritisiert.
»Seltsam. Ich streite mich ständig mit meiner Frau. Wer den Müll rausbringt, wer mit dem Hund um den Block geht …«
Mühsam ringt Liam sich ein Grinsen ab. Sein Blick tastet über die Hände des Hauptkommissars: Er trägt einen Ehering, scheint also wirklich verheiratet zu sein.
»Anna und ich«, sagt er, »sind noch nicht lange zusammen. Vier Monate. Ich schätze, das ist der Grund, warum wir uns noch nicht gestritten haben.«
»Worüber haben Sie denn so gesprochen, am Abend bevor sie verschwand?«
»Über unsere Arbeit: Sie hat von der Uni erzählt, ich von der Redaktion.«
»Sie arbeiten beim Fernsehen? Als Volontär?«
»Ja.«
»Arbeiten Sie viel?«
»40 Stunden in der Woche werden es schon sein.«
»Fehlt Ihnen da nicht ein wenig Zeit für Ihre Freundin?«
»Wir haben keine Probleme.«
»Danach hab ich nicht gefragt.«
»Darauf wollen Sie doch aber hinaus? Sie suchen nach etwas, was zwischen uns nicht stimmen könnte. Weshalb sie verschwunden sein könnte.«
Der Kommissar breitet seine Hände aus, sein Lächeln ist sympathisch.
»Es ist einfach wichtig, dass wir eine wirklich genaue Vorstellung von dem Umgang zwischen Ihnen bekommen.«
Liam blickt ihn an. Seine Augen hinter dem Brillengestell sind blau wie seine eigenen. Warum nicht einfach die Karten auf den Tisch legen?
»Okay«, beginnt er, »wir sind total verknallt. Wolke sieben, Schmetterlinge im Bauch. Übers Zusammenziehen haben wir noch nicht nachgedacht. Zumindest nicht gemeinsam. Anna ist Waise, hat sich an das Alleinsein gewöhnt. Ist eigenständig, hat ihr Leben im Griff.«
»Würden Sie gerne mit ihr zusammenziehen?«
»Ja, wieso nicht? In ein paar Monaten.«
»Aber das haben Sie ihr nicht gesagt?«
»Vielleicht hab ich ein paar Andeutungen gemacht.«
»Und Frau Hansen? Die auch?«
»Ja, die auch. Ich glaube, wir sind uns einig, in welche Richtung sich die Beziehung entwickelt.«
»Prima. In welche denn?«
Allmählich kommt er sich vor wie in einer Therapiestunde. Er weiß nicht, wohin mit seinen Händen, seinen langen Beinen. Deswegen streckt er sie aus, reibt sich den Schweiß der Handflächen an der Jeans ab.
»Das reicht langsam. Das alles hat mit Annas Verschwinden nichts zu tun.«
»So was hat in den allermeisten Fällen was mit dem Verschwinden der Leute zu tun«, schaltet sich der Junge ein, lehnt sich nun ebenfalls auf den Schreibtisch, bereit, sich endlich am Geschehen zu beteiligen.
»In den allermeisten? Oder bloß in den meisten?«, fragt Liam, kann sich diese bissige Bemerkung nicht verkneifen.
Im selben Moment stellt selbst er fest, wie unsympathisch er wirken muss. Dass er fast schon so redet wie sein Vater, der immer Wert auf sprachliche Spitzfindigkeiten legt. Doch dem Kommissar scheint seine Bemerkung nichts auszumachen. Er hält Liams Blick stand, allein sein Magen ist es, der reagiert, der in die Gesprächspause hinein zu knurren beginnt. Peinlich berührt lehnt er sich zurück, verschränkt die Arme wieder vor dem Körper, als könne er seinen Hunger auf diese Weise in Schach halten. Der wäre besser mit den Kollegen zur Döner-Bude gegangen, findet Liam.
»Machen Sie hier eigentlich nie Mittagspause?«, fragt er, darum bemüht, seine Bemerkung von eben wiedergutzumachen. Doch seine Frage wird ignoriert.
»Das bringt uns jetzt nicht weiter«, stellt der Hauptkommissar fest. »Worauf mein Kollege hinauswill, ist, dass die meisten Menschen sich freiwillig für eine gewisse Zeit zurückziehen. Oft sind dafür innere Beweg gründe der Auslöser, von denen selbst die engsten Mi tmenschen nichts ahnen. Vor ein paar Wochen erst eine junge Frau, etwa in dem Alter Ihrer Freundin. Fühlte sich von ihrem Freund eingeengt, hatte beschlossen, mit einer alten Bekannten übers Wochenende nach Holland zu fahren, eine kleine Auszeit zu nehmen.«
Liam nickt, ihm ist klar, worauf der Kommissar hinauswill.
»Annas Freunde haben wir bereits angerufen«, sagt er.
»Gut. Aber auch die von ganz früher? Aus Annas Schulzeit, alte Bekannte – Leute, von denen Sie gar nichts wissen? Schauen Sie. Ich will Ihre Sache nicht verharmlosen. Nur haben wir täglich mit solchen Fällen zu tun. Etwa 50 % aller Vermisstenfälle klären sich innerhalb der ersten Woche, weitere 30 % innerhalb eines Monats.«
Liam setzt an, doch sein »Aber« geht im Redefluss des Kommissars unter.
»Das bedeutet natürlich nicht ,
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