Stumme Angst (German Edition)
Angehörigen dabei sein.
Marie beginnt, die Scherben aufzusammeln. Er bleibt still stehen, die Hände hinter seinem Rücken auf die Spüle gestützt. Er könnte ihr was zum Aufkehren geben. Doch er lässt es bleiben, kann sich nicht lösen aus dieser Starre.
»Was Sie tun können«, meinten die Bullen, »ist eine Liste mit allen Personen zusammenzustellen, die mit Anna befreundet sind. Kommilitonen an der Uni, Nachbarn, alte Schulfreunde. Schreiben Sie so viele Personen auf, wie Ihnen einfallen, und ordnen Sie diese Liste nach einem bestimmten Schema: Engste Bezugspersonen, Alter, Beruf, Wohnort, Kontakte wie Telefon, Handy, Mail-Adresse. Je mehr Infos wir haben, desto besser. Kümmern Sie sich um diese Liste, nehmen Sie das ernst. Das ist die Grundlage für unsere Arbeit.«
Eine Liste erstellen, na toll. Er ist einer, der gerne anpackt. Er hat die letzten zwei Tage damit verbracht, über das Verschwinden von Anna nachzudenken, endlich will er was tun, ist es leid, einfach nur rumzusitzen.
Marie hat die groben Scherben zusammengesammelt, steckt sie sorgfältig in den Mülleimer.
»Hast du was zum Aufkehren?«
Sein Nicken. »Im Flur, Schrank.«
Das Nudelwasser kocht, er kippt eine Tüte Spaghetti hinein. Salbeisoße mit Knoblauch hätte es am Freitag geben sollen, heute hat er bloß noch Pesto aus dem Glas übrig.
»Komm, jetzt lass uns was essen«, sagt Marie, während sie die restlichen Scherben zusammenkehrt.
Er versucht, über ihr erneutes Komm hinwegzusehen. Irgendwann wird sie jemanden kennenlernen, dem das gefällt. Er betrachtet sie: ihre üppigen Waden, die Sorgfalt ihrer Kleidung. Ihr unauffälliges Gesicht, umrahmt von dem hellen, dünnen Haar. Natürlich ist sie irgendwie hübsch. Und irgendwie nett. Es ist nur seine Arroganz, wie immer. Wegen der er keinen richtigen Zugang zu ihr bekommt, er erwartet zu viel. Genau wie sein Alter. Kannst du nicht irgendwas wirklich gut , bist du nichts wert. Das Gros der Leute, sagt sein Vater immer, könne doch nichts. Komme abends nach der Hause und setze sich vor die Glotze.
»Von denen wird nichts bleiben, Liam. Vielleicht noch die Erinnerung ihrer Kinder; aber das war’s dann.«
Immerhin, sollte er seinem Vater bei der nächsten Gelegenheit mal stecken. Immerhin die positiven Erinnerungen der Kinder. An einen Nachmittag vielleicht, an dem man nichts sein musste. An dem man sich nicht behaupten musste.
Ist vielleicht besser als der ganze Haufen theologischer Bücher, die der Herr Professor verfasst hat und zurücklassen wird. Als würde sich in 50 Jahren noch irgendeine Sau dafür interessieren.
»Ist dir noch was Wichtiges eingefallen bei der Polizei?«
Liam betrachtet Marie, sorgfältig rollt sie ihre Spaghetti auf die Gabel.
»Nein. Sie haben mich gebeten, Annas soziales Umfeld zu skizzieren. Das hab ich gemacht. Und natürlich haben sie mich über dich ausgequetscht. Ob Anna mit dir glücklich ist. Ob zwischen euch etwas vorgefallen ist.«
»Und? Was hast du gesagt?«
Etwas wie ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Liam«, meint sie ruhig und legte die Gabel beiseite. »Das hast du mich schon dreimal gefragt, seitdem wir das Präsidium verlassen haben.«
Natürlich hat sie recht. Und er kann ihr diese Zurechtweisung nicht mal verübeln. Dennoch kann er nicht verhindern, dass seine Fragen sich wiederholen. Dass er immer wieder in dieselbe Richtung denkt: Gibt es jemanden, der Anna belästigt hat, der ihr zu nahe getreten ist? Marie ist diejenige außer Selma, die Anna am besten kennt. Und Selma ist nicht da.
Er fragt sich, ob Marie wirklich über die Situation nachdenkt. Ob sie sich wirklich anstrengt . Oder ob sie sich eher auf ihre Spaghetti konzentriert.
Er tut ihr Unrecht, wie immer. Vielleicht geht es ihr ähnlich wie ihm: Vielleicht forstet sie in Gedanken alle möglichen Situationen durch: Gespräche mit Anna, Treffen mit anderen Leuten.
Oder vielleicht ist Anna wirklich zufällig etwas zugestoßen? Etwas, das mit ihrem bisherigen Leben nicht das Geringste zu tun hat?
Sie essen schweigend, der Hund hockt vorm Tisch.
»Tut mir leid wegen eben«, meint Liam, und Kapitän legt den Kopf schief. Ohne seine Augenklappe sieht er verletzlich aus.
»Schon gut«, antwortet Marie, fühlt sich angesprochen. Liam hatte zwar den Hund gemeint, aber er entgegnet nichts, schaufelt stattdessen mechanisch die Nudeln in sich hinein. Hauptsache, er kann das Loch in seinem Bauch stopfen. Und in Gedanken ist er bereits einen Schritt weiter: diese Liste, die
Weitere Kostenlose Bücher