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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina Stein
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sie auch auf dem Sofa sitzend gemalt, weil sie immer dort saßen: zwei alte Säcke, die sich nichts mehr zu sagen hatten. Die immer nur dahockten und in die Glotze starrten. So ein Leben führten die. Völlig leer. Da hab ich gemalt, dass ihnen Blut aus den Augen tropft. Weil heulen konnten die ja nicht. Die saßen quasi schon da wie zwei Leichen, jahrelang.«
    Ich zwinge mich, ihn weiter anzuschauen. Ihm zu zeigen, dass ich dem gewachsen bin. Doch ich weiß nicht, was er will: Mitleid oder ein Gespräch auf Augenhöhe?
    Ich entscheide mich für Letzteres und winke die Angst vorbei.
    »Wo hast du die Bilder jetzt? Kann ich sie sehen?«
    »Vielleicht später. Hab ein paar abfotografiert und die Daten auf meinem Laptop.«
    Ihn zu fragen, was er jetzt machen will, trau ich mich nicht. Auf was für eine Idee könnte er schon kommen. Doch ich bin froh, als er von selbst vorschlägt, ich könnte ihm weiter vorlesen.
    9. November 1941
    Jakob ist angekommen. Eben sah ich Herrn Klaus in der Kirche, sein bärtiges Gesicht, das mir kaum merklich zunickte. Vor Dank fiel ich auf die Knie, betete vor Erleichterung.
    Vor der Kirche fiel die Sonne senkrecht auf das Kopfsteinpflaster. Die große Kastanie auf dem Platz hat die meisten Blätter verloren. Ihr Laub verfärbt sich braun, nicht gelb oder rot. Kinder sprangen unter dem Baum umher, suchten nach ein paar übrig gebliebenen Früchten, wollten damit die Schweine füttern. Heinrich stand an den Stamm gelehnt.
    Ich eilte mich, meine Finger nestelten nach dem Schlüssel für das Fahrrad. Zu spät.
    »Ida«, sagte er hinter meinem Rücken.
    Ich drehte mich um und schaute ihn an.
    Sein Blick war anders, nicht mehr herablassend. Ein wenig wie früher, als wir Kinder waren. Als er mich nach der Kirche immer ein Stück die Allee hinunter begleitet hat. Manchmal spielten wir auch zusammen: Er, Eva und ich. Sogar Jakob war manchmal dabei gewesen.
    Er wollte um Verzeihung bitten. Doch er brachte kein Wort heraus, blickte nur verstohlen auf seine blank polierten Stiefel.
    Ich setzte mich aufs Fahrrad und fuhr davon.
    10. November 1941
    Heute hatte ich meinen ersten Tag in der Schule. Jetzt bin ich müde, so müde! Es ist, als könnte ich jetzt, wo Jakob in Sicherheit ist, endlich wieder schlafen.
    Herr Klaus hat mich in die hintere Reihe gesetzt, als hätte er gewusst, wie schwierig es für mich gewesen wäre, Heinrich und die anderen in meinem Rücken zu wissen.
    Vorne in der ersten Reihe sitzt Greta, außer mir ist sie das einzige Mädchen in der Klasse. Von den Knaben wird sie oft gehänselt, Brillenschlange gerufen. Doch diese Art von Bemerkungen lassen sie unberührt, sie versteckt sich hinter ihren Büchern. Uns verbindet nichts, nur dass wir Mädchen sind, lässt uns zusammenhalten.
    Eigentlich hätten wir auf eine eigene Mädchenschule gehen müssen: Greta, Maria, Lisbeth, Clara und ich. Die einzigen Mädchen sind wir, die Abitur machen dürfen! Doch die nächste Schule ist zu weit entfernt, mit dem Bus wären es drei Stunden hin und wieder zurück. Man macht eine Ausnahme für uns.
    In den Pausen sitzen wir zusammen. Hören, wie die Jungen über den Krieg sprechen. Die Ostfront, die Balkanländer, die erobert worden sind. Ich versuche mir vorzustellen, wie groß das Deutsche Reich geworden ist.
    An die verstohlenen Blicke der Knaben gewöhnt man sich. All ihre dummen Sprüche, ihr Grölen, mal offenkundig, mal hinter verborgener Hand.
    Clara ist die hübscheste von uns. Ihre Haut ist porzellanfarben, ihre Hände klein, ganz fragil. Wie eine Puppe sieht sie aus: Man möchte sich vor sie setzen und sie lange anschauen. Eine Schönheit, die seltsam entrückt wirkt. Wenn sie der Lehrer etwas fragt, wird sie rot. Und weiß doch immer die richtige Antwort.
    Heinrich und die anderen habe ich in der Pause nicht gesehen. Bestimmt sind sie heimlich rauchen gegangen. Wirklich erwachsene, starke Männer wollen sie sein. Manchmal werden sie erwischt und müssen nachsitzen. Ihre Hände nach dem Lineal ausstrecken, die Handinnenflächen nach oben. Sie fühlten sich rau an, ihre Hände.
    13. November 1941
    Ich schreibe einen Brief an Jakob, den ich Herrn Klaus mit ein paar Kartoffeln zustecke. Natürlich darf ich dem Lehrer nichts geben. Wie sähe das denn aus für die Kameraden? Nach Bestechung sähe es aus! Aber ich verlasse als Letzte den Klassenraum und lege das Bündel vorne auf dem Pult ab.
    Ich weiß, dass Herr Klaus den Brief nicht lesen wird. Was sollte auch Geheimes darin stehen? Nicht

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