Stumme Angst (German Edition)
können. Doch er versuchte nicht, mich zu überreden. Er ist einer der stolzesten Menschen, die ich kenne.
»Auf Wiedersehen«, sagte er leise und ging.
Es war seltsam, Natan den Text vorzulesen. Meine Stimme klang brüchig, hangelte sich von Zeile zu Zeile. Er muss den Text hören. Damit er sich eine bessere Vorstellung machen kann, wie weh es tun kann, wenn man einen Menschen einfach so berührt.
Aber wie er mich beim Vorlesen fixierte. Wie er jede Regung meines Gesichtes beobachtete, als würde er bloß einen Grund suchen, mir einen Vorwurf daraus zu machen. Ich las nur einen Eintrag, legte das Buch dann zur Seite.
»Wusstest du das?«, wollte ich wissen. »Dass deine Oma dabei geholfen hat, einen Juden zu verstecken?«
Er schüttelte den Kopf, starrte zum Fenster hinaus. Ließ mich nicht teilhaben an seinen Gedanken.
Auch zum Weiterlesen forderte er mich nicht auf: Den restlichen Tag lag das Buch unberührt auf dem Tisch. Genau wie ich auf dem Bett.
»Kann ich was zeichnen?«, traute ich mich zu fragen.
Unschlüssig hob er die Schultern, warf mir Block und Stift hin. Ich skizzierte ihn: in sich versunken, den Kopf zur Seite gedreht. Seine Hände in seinem Schoß. Wie ruhig sie da liegen können.
Irgendwann ging er fort, schlief sogar in einem anderen Zimmer, ließ nur den stummen Mann zurück. Erst in den Morgenstunden kam er zurück und schmiegte sich an mich.
Jetzt schaut er sich meine Zeichnungen an. Betrachtet lange sein eigenes Gesicht auf dem Blatt.
Das nächste stellt das Stillleben auf dem Tisch dar: Geschirr türmt sich, in den Gläsern die Reste von Saft und Wein. Meine Zeichnung vom Messer, ich skizzierte seine zwei Klingen: eine zum Sägen und eine zum Schneiden. Gestern war es mir egal, wie er darauf reagieren könnte. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher und presse den Rücken dicht an die Wand.
Doch das war nicht alles, was ich gemalt hatte. Dort war noch der stumme Mann. Diese hässliche Fratze.
Zuletzt der Blick aus dem Fenster. Das kleine Stückchen Freiheit dort, wo sich manchmal die Krähen auf der Tanne treffen. Sich dort niederlassen, als würden sie eine Konferenz abhalten. Oder als würden sie uns beobachten.
»Du hast wirklich Talent«, sagt er und streicht mir über das Knie. Ich ziehe die Beine an. Obwohl ich weiß, dass das nichts bringt, dass er sich ohnehin nehmen kann, was er will.
Das ist noch etwas, das ich zeichnen könnte: eine Selbstbedienungstheke für Männer: geöffnete Beine, Brüste, Münder. Eine Gestalt, die davor steht und nach einzelnen Körperteilen greift. Als würde man sich an der Kühltheke statt eines Joghurts eine Frau auswählen. Sie sich so zusammenstellen, wie man sie gerade haben möchte.
Ich sehe es genau vor mir, dieses Bild. Auf Leinwand könnte ich es zeichnen, die Gestalt des Mannes grell, die Körperteile dahinter eine einheitliche, fleischige Masse. Ich könnte endlich ein richtiges Bild malen, so wie Mama.
Doch ich vergesse, ihn bei Laune zu halten.
»Du hast auch Talent«, beginne ich, blicke ihm ins Gesicht. Er soll sehen, dass ich es ernst meine.
»Was hast du fotografiert in den letzten Jahren? Zeig’s doch mal …«
Etwas in seinem Blick verändert sich. Seine Lethargie scheint verschwunden zu sein. Ich spüre, dass er schwankt. Ob er mir glauben oder eine reinhauen soll. Weil ich ihm schmeichele. Versuchen könnte, ihn zu manipulieren.
»Ich mein das ernst, Natan«, sag ich deswegen. »Nur weil ich hier mit gefesselten Händen sitze, muss das nicht heißen, dass ich deine Bilder nicht gut finde. Das weißt du.«
Er zuckt mit den Schultern, steht auf und greift nach einem Glas Wasser.
»Mag sein«, sagt er endlich. »Aber ich hab eh nicht viel gemacht in den letzten paar Jahren. Ein paar Aufträge auf Hochzeiten, Taufen. So ’n Scheiß eben.«
»Was ist mit deinem Studium?«
»Hab ich geschmissen. Sind alle Arschgeigen da! Der Prof meinte, meine Bilder wären zu krass. Die gemalten, mein ich. Zu viel Blut, zu aggressiv. Was die suchen, ist Mainstream. Ein bisschen abgefahren darf’s ja schon sein. Aber einem Künstler wirklich in die Seele schauen – das will man dann doch nicht.«
»Was denn für Blut?«
Wieder zuckt er mit den Schultern und richtet den Blick aus dem Fenster. Dann eine Art zynisches Lachen, seine Augen heften sich auf mein Gesicht.
»Du würdest die Bilder verstehen. Hab mir halt vorgestellt, wie meine Eltern auf der Straße liegen. Ihre Wunden, ihre Körper auf dem Asphalt. Manchmal hab ich
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