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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina Stein
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den Holzlatten macht mir immer mehr Angst. Wird immer mehr zu einer Gestalt, zu einem Wesen mit Füßen und Händen. Händen, die nach mir greifen, mich berühren wollen. Genau wie er. Als hätte er sich verdoppelt, Natan. Sich noch in die Holzlatten verkrochen, um auch dort über mich zu wachen. Als er fertig war, blieb er still. Der Kaffee in seiner Tasse war kalt geworden, allenfalls zwei Schlucke hatte er davon getrunken. Lange Zeit sagte er nichts, starrte bloß aus dem Fenster. Irgendwann stand er auf und schaltete die Glotze ein.
    Bis ich ihm wieder einfiel. Da war ja noch etwas, das er in die Ecke gestellt hatte.
    »Wieso sagst du nichts? Willst du nichts frühstücken?«
    Er legte ein Brot für mich auf den Teller.
    »Was willst du draufhaben?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Käse vielleicht.«
    Er schenkte mir Kaffee ein, reichte mir ein Glas Saft, das ich in kleinen Schlucken trank. Er versorgte mich wie ein kleines Kind.
    »Du hast ja sogar Eier gemacht«, ermunterte ich ihn, versuchte, etwas in Bewegung zu bringen. Ein bis zwei Wochen dachte ich mir. Durchhalten, Anna.
    Doch er starrte mich bloß an.
    »Das Buch. Wo genau hast du es entdeckt?«
    Ich zeigte es ihm.
    Die locker sitzende Fliese nahm er mit ins Zimmer. Legte sie auf den Tisch neben das Messer. Im Hintergrund lief der Fernseher, irgendeine Sendung über Argentinien. Er hatte nicht leiser gedreht, ich verstand kaum, was er sagte.
    »Wieso hast du das Buch nicht wieder versteckt?«
    Er saß dicht neben mir, beugte sich über mein Gesicht, damit ihm keine Regung entging.
    »Wir müssen doch über irgendwas sprechen, Natan.«
    Er gab mir einen Klaps mit der flachen Hand, wie bei einem kleinen Kind, das sich endlich konzentrieren soll.
    »Verarsch mich nicht«, sagte er leise. »Also?«
    Ich schaute ihn an. Grün durchsprenkelte Augen, der Herpes auf seiner Lippe warf dicke, hässliche Blasen.
    »Ich hab Angst.«
    Abrupt stand er auf und rieb sich das Kinn, sein Dreitagebart machte dabei wieder diese Kratzgeräusche. Unschlüssig tigerte er durchs Zimmer. Ein krankes Tier, das die Orientierung verloren hat.
    Ich begriff: Er hatte keinen Plan. Er würde alles den Gegebenheiten anpassen.
    »Deine Oma – Ida. Was weißt du eigentlich über sie?«
    Endlich kam er auf dem Stuhl zur Ruhe. Wippte bloß noch ungeduldig mit den Füßen und zuckte schließlich mit den Schultern.
    »Anscheinend nicht besonders viel. Deswegen …«, er warf mir das Buch aufs Bett. »Lies.«
    8. November 1941
    Heute war mein letzter Tag mit Jakob. Er schlief bis in die Mittagsstunden hinein, bis ich begann, in der Küche herumzuwerkeln. Als er eintrat, trug er die Sachen, die Papa ihm gegeben hatte; sie waren ihm zu groß, die Ärmel musste er hochkrempeln, die Hose schlackerte um seine Hüfte.
    »Brauchst du einen Gürtel?«, fragte ich.
    Er grinste, und die Röte stieg mir ins Gesicht: Wie dumm meine Frage gewesen war! Als gäbe es nichts Wichtigeres als einen Gürtel, als hätte das die erste Frage sein müssen, die ich an diesem Morgen an ihn stellte! Verlegen wandte ich den Kopf ab, spürte aber sein verschmitztes Grinsen im Rücken: Dieser leicht zynische Zug um seine Lippen, schon immer hat er so gelacht, das rechte Auge etwas mehr zusammengekniffen als das linke.
    »Haben sie im Wald nach dir gesucht?« Er schüttelte den Kopf. Nur vor dem Förster hätte er sich verstecken müssen.
    Dann sein Griff, er zog mich zu sich heran. Umfasste mit der einen Hand meinen Nacken, mit der anderen die Taille, küsste mich lang.
    Ein Gefühl der Wärme hatte sich in meinem Bauch ausgebreitet, hatte gekribbelt.
    Den Nachmittag und Abend verbrachten wir zu dritt: Papa, Jakob und ich.
    Vater hatte ein Stück Rindfleisch besorgt, wir kochten es in der Pfanne, ich briet Kartoffeln dazu. Man hätte meinen können, wir wären eine Familie. Die ganze Zeit über saß Jakob so, dass man ihn vom Fenster aus nicht sehen konnte.
    In der Nacht bettelte ich so lang, bis Papa mir erlaubte, Jakob ein Stück zu begleiten.
    »Zehn Minuten«, mahnte er. Aber natürlich blieb ich länger fort. Erst küssten wir uns unter der Weide. Dann sagte Jakob: »Zeig mir, wo es passiert ist.«
    »Nein.« Ich weinte.
    »Du verstehst nicht. Wir könnten uns dort lieben.«
    Ich schüttelte energisch den Kopf. Nein. Natürlich verstand ich, was er meinte. Er wollte, dass ich eine zweite Erinnerung hatte. Eine, die mich die erste vergessen ließ.
    Ich spürte seine Enttäuschung, er hatte sie nie gut verbergen

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