Stumme Angst (German Edition)
Hinweisen, die uns helfen könnten, sie zu finden. Vielleicht sind Kleinigkeiten wichtig. Irgendein Detail, von dem Anna dir vielleicht mal erzählt hat. Können wir uns treffen? Vielleicht kommt dir das komisch vor, aber mir würde das sehr helfen. Wäre nett, wenn du dich melden könntest. Meine Nummer anbei. Deine hab ich leider nicht – bloß diese Mail-Adresse.
Viele Grüße, Liam.
Der dritte Name: Erik. Medizinstudent, Alter ca. 22.
Eine Telefonnummer, die er wählt.
»Ja?« Die Stimme einer Frau. Rauchig klingt sie, wie eine, der man lange zuhören mag.
»Hi, hier ist Liam. Liam Lorenz. Ich würde gerne mit Erik sprechen.«
»Bist schon der Zweite, der heute nach ihm fragt. Eben hat die Polizei angerufen. Wegen eines Mädchens, die verschwunden ist. Rufst du deswegen an?«
»Ja.«
»Erik wohnt schon seit ein paar Monaten nicht mehr hier.«
»Okay. Weißt du, wo ich ihn erreichen kann?«
»Hmmm. Könnte schwierig sein im Moment. Er ist in Afrika, in irgend so ’nem Camp. Ist mit Ärzte ohne Grenzen hingefahren. Ich kann dir seine Mail-Adresse geben, aber ins Netz geht er nur sporadisch. Der ist irgendwo in the middle of nowhere. «
Liam notiert sich die Adresse.
»Kennst du Anna?«
»Das wollte die Polizei auch wissen. Und nein – ich kenn sie nicht. War vor meiner Zeit. Erik und ich sind auch nicht zusammen oder so. Wir wohnten hier nur in einer WG.«
Immerhin machen die Bullen ihren Job, denkt er und stellt sich vor, wie der junge Kommissar die Leute von der Liste anruft und dabei ungeduldig mit den Füßen wippt. Wie er sich denkt: Macht doch eh keinen Sinn.
Björn – der letzte Name mit Telefonnummer. Es wundert ihn, dass Marie diese ganzen Nummern aufbewahrt. Warum sie die überhaupt noch hat. Eigentlich löscht man die doch nach ein paar Monaten.
Germanistikstudent, steht dort.
Doch bevor er die Nummer wählen kann, klingelt sein eigenes Telefon. Mit einem Namen auf dem Display: Marie.
Er hebt ab und fühlt sich leer. Ob er zum Abendessen kommen will, fragt sie. Es würde ihm guttun, mal rauszukommen.
»Zu müde«, gesteht er. »Hab Höllenkopfschmerzen.«
»Dann komm morgen«, schlägt sie vor. »Vielleicht fällt uns noch was ein.«
»Mal schauen. Ich ruf dich an, okay?«
»Okay.«
»Und Liam?«
»Ja?«
»Ruf an, wenn du reden willst.«
Er legt auf. Immerhin: Sie hat nicht einmal Komm gesagt. Bloß zum Essen kommen , aber das gilt nicht.
Rebecca ruft an, außerdem Felix und weitere Freunde von Anna. Sie alle wollen das Gleiche wissen: Ob es was Neues gibt. Wie er sich fühlt. Ob sie vorbeikommen sollen. Zu Felix sagt er: »Ja. Und bring Bier mit.«
Björn hebt nicht ab. Weder er selbst noch sein Anrufbeantworter. Vielleicht stimmt die Nummer nicht, er wird Marie morgen danach fragen. Genau wie nach Natan. Mehr als ein Vorname muss ihr doch einfallen. Bei allen anderen steht schließlich auch was dahinter. Jurastudent, Germanistikstudent. Nur bei Natan ein leeres Feld.
Zuletzt Elias. Noch so ein Mediziner, bei dem Marie nur eine Mail-Adresse vermerkt hat. Er sucht die Mail an Andreas heraus, kopiert den Text, ändert nur die Ansprache. Hält die Kamera auf das Display und fotografiert den Text ab.
Danach geht er zum Regal und wühlt ein altes Asterix-Heft heraus. Zoomt einen Ausschnitt daraus heran: Obelix mit Hinkelstein.
Torben , schreibt er daneben auf ein Post-it, ist riesig .
Und in Gedanken: deine Brüste in seinen Händen. Die werden darin verschwunden sein.
Verschwunden, genau wie du, Anna.
Donnerstag, Tag 7, Anna
M ein Leben, gestern.
Immerhin: Er schlug mich nicht, sondern nahm das Buch in die eine Hand, in der anderen hielt er das Messer. Er fesselte die Handgelenke, setzte mich auf dem Bett ab.
Erst dann öffnete er das Buch und über sein Gesicht huschte etwas wie Überraschung.
»Deswegen hast du nach meiner Großmutter gefragt.«
Er ging ein paar Schritte durch den Raum, als wäre er unschlüssig, wie er reagieren sollte.
»Das Buch hättest du mir gleich zeigen sollen«, presste er raus. Mir stockte der Atem, doch der Vorwurf in seiner Stimme hielt sich in Grenzen. Die Überraschung über den Fund war größer.
»Bis wohin hast du gelesen?«
Ich zeigte ihm die Stelle, er schenkte sich Kaffee ein und begann mit der Lektüre; mich ließ er auf dem Bett sitzen wie einen Gegenstand, den man vergessen hat.
Ich verhielt mich still. Vermied Natan anzuschauen, sein Gesicht, das reglos in das Buch starrte. Doch wohin mit den Augen? Der stumme Mann in
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