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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina Stein
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Arnold waren tot. Aber es gab andere, die sich zusammentrommeln ließen. Die ohnehin wussten, dass ich mit einem Juden zusammenlebte. Die ihn lieber tot sehen wollten, trotz allem, was mit den Juden in Deutschland geschehen ist, was sie ohnehin nicht glauben wollen.
    Mich hassen sie genauso. Schlampe nennen sie mich , das weiß ich. Ob ich deswegen einfach stehen blieb?
    Oskar hielt ich im Arm. Er hatte zu weinen begonnen: Kinder verstehen mehr, als man meint.
    Ich hörte sie schreien, sich schlagen. Friedrich kam um die Ecke gelaufen und schmiegte sich weinend an mein Bein. Ich zog die Kinder ins Haus, wollte nichts wissen von dem, was draußen geschah. Die Axt hatte Jakob im Eingang stehen lassen. Doch gestorben war Heinrich trotzdem. Mit dem Kopf soll er aufgeschlagen sein auf einen großen Stein, als er fiel.
    Mag sein, dass das stimmt. Mag aber auch sein, dass Jakob ihn totschlug. So schwach wie Heinrich gewesen war, hatte er sich nicht wirklich wehren können.
    Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Da war sehr viel Hass in Jakob. Wer kann es ihm verübeln?
    Wir ließen ihn liegen, den Heinrich. Bis es zu dämmern begann und die Nacht seinen Körper verschluckte.
    Natürlich dachten wir darüber nach, es der Polizei zu melden. Doch wir trauen ihnen nicht, den Nazis. Nur noch fort, das wollen wir!
    »Dann fahren wir eben früher nach Amerika«, sagte Jakob.
    Heute habe ich gepackt. Wir werden nicht viele Dinge brauchen. Bloß ein paar Kleider und ein Andenken an meine Eltern. Den gesamten Hausrat lasse ich hier. Genau wie das Tagebuch, wer soll es schon finden? Nicht mal Jakob weiß davon, so gut ist es versteckt hinter der Kachel.
    Irgendwann werde ich das Haus verkaufen. In ein paar Jahren, wenn sein Körper zerfallen ist. Hinter dem Komposthaufen liegt Heinrich begraben. Da würde ohnehin alles vergammeln, hat Jakob gesagt. Das tat mir weh. Denn es ist nicht so leicht. Heinrich, der hätte … ich weiß nicht. Der hätte noch mal neu anfangen können. Und Jakob hätte alles hinter sich lassen sollen. Aber so wird er das mitnehmen, selbst über den Ozean. Wird immer dieses Bild vor Augen haben: Heinrich, tot. Hinter dem Komposthaufen vergraben. Und ich? Ich bin ja einfach stehen geblieben.
    Ich hab Angst. Nicht vor der Justiz, nicht mal davor, dass seine Knochen ans Licht kommen könnten. Dass etwas zwischen Jakob und mir zerbricht, davor habe ich Angst. Denn wie soll man leben mit all diesen Fragezeichen.
    Ich wünschte, Papa wäre hier. Er würde noch leben in diesem Haus. Sich um den Garten kümmern, die Kartoffeln, die Sonnenblumen. Er wäre etwas, zu dem ich zurückkehren könnte.
    Jakob – es kommt ihm erst gar nicht in den Sinn, dass es schwierig sein könnte, all dem den Rücken zu kehren. Einfach so, nach all den Jahren.
    Doch wenn man keine Heimat mehr hat, fällt es auch nicht schwer, sie zu verlassen.
    Natan klappt das Buch zu, legt es neben sich auf den Tisch.
    »Und ich sag dir: Lange gehalten hat das nicht mit Ida und Jakob. Dass mein Vater ein paar Jahre in den Staaten gelebt hat, das weiß ich. Aber ich glaub, der war erst sechs, als er mit meiner Großmutter wieder zurück nach Deutschland kam. Viel mehr hat er nicht erzählt. Und Jakob: Der ist in den Staaten geblieben. Und hat später seinen Sohn zu sich geholt, Oskar.«
    Na und?, will ich ihn fragen. Vielleicht war Ida wenigstens eine Weile lang glücklich. Doch Natan versteht nicht, beginnt zu lamentieren. Dabei nehme ich ihn wahr wie jemanden, der aus weiter Ferne spricht.
    Jakob hätte seinen Großvater totgeschlagen, so viel sei klar! Von wegen der wäre mit dem Kopf auf einen Stein aufgeschlagen! Keine Chance hätte er dem gelassen! Dabei könnten Menschen sich ändern. Das hätte selbst Ida gesehen, das müsste doch auch ich begreifen!
    Er sieht in der Geschichte, was er sehen will. Nicht nur eine Ungerechtigkeit gegenüber seinem Großvater, sondern auch gegenüber sich selbst.
    »Mag sein«, sag ich leise zu ihm. »Doch manche Wunden, Natan. Die können nicht heilen.«
    Ich weiß nicht, wie er darauf reagiert. Ob seine Augen zu funkeln, seine Wangenknochen zu mahlen beginnen. Ich weiß es nicht, denn ich halte die Augen geschlossen. Natürlich: Es wird ihm nicht gefallen, was ich gesagt habe. Doch inzwischen ist es mir gleich. Ich glaube ohnehin, dass ich in diesem Zimmer sterben werde.

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    D as Haus liegt im Schatten. Ein Reiheneckhaus ist es, das Wohngebiet seit den 70er-Jahren gewachsen. Die Vorgärten der

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