Stumme Angst (German Edition)
ist. Hier in Natans Haus.
Wie lange würde es dauern, bis ein Einsatztrupp anrücken würde? Zwei Stunden, drei, vier?
Der Kommissar würde ihn wieder anrufen und fragen, ob er Anna wirklich gesehen hätte. Und was sollte er dann sagen? Dass sein Hund Anna an Natan gerochen hatte? Dass die Fotos für sich sprechen?
Ein bisschen wirr wird das mit den Fotos schon geklungen haben. Aber trotzdem muss es doch möglich sein, wenigstens eine Person von so einem Einsatz abzuziehen!
Die Häuserreihe sieht aus wie gestern: die Blumen, die gepflegten Vorgärten. Neben Natans Haus: Ein alter Mann, der Unkraut jätet, Schaufel und Besen liegen neben ihm auf dem Weg.
»Hallo«, sagt Liam im Vorbeigehen, der Mann grüßt zurück.
Das Haus wirkt verschlossen. Kein Fenster auf Kipp, keine Geräusche dringen vom Garten herüber. Schon als er klingelt, spürt er, dass Natan nicht da ist. Er wartet dennoch, klingelt wieder. Geht kurzerhand um das Haus herum, findet alles unverändert vor.
Zurück auf dem Weg, spricht der Alte ihn an.
»Sie suchen Natan? Der war schon lange nicht mehr da.«
»Ich hab mich gestern noch mit ihm getroffen.«
»Ach ja? Da hätte er gleich mal den Knöterich vom Zaun wegschneiden sollen. Der wuchert unsere Laube zu, genau wie den Rest des Gartens, ein Jammer ist das!«
»Er meinte, er würde das Haus ausmisten, für den Verkauf auf Vordermann bringen.«
»Ach ne! Das wäre mal was! Ist ja auch nicht mehr mit anzusehen, dieses ganze Gerümpel! Und im Haus sieht’s genauso aus? Will ich mir gar nicht vorstellen. Seine Eltern, das waren ordentliche Leute.«
»Sagen Sie, kann ich Ihnen mal ein Foto zeigen? Von einer Frau. Anna heißt sie, meine Freundin. Haben Sie die schon mal gesehen?«
Er hält ihm das Display seines Handys hin, der Alte nimmt es in die Hand und runzelt die Stirn. Bildet mit der Handfläche eine Mulde, um die Aufnahme im Sonnenlicht besser betrachten zu können. Seine Hände, die zittern unentwegt dabei. Parkinson, denkt Liam und lässt ihm Zeit.
»Hhmm, kann sein. Vor ein oder zwei Jahren war hier mal ’ne junge Frau. Die war aber schnell weg. So wie die meisten anderen Leute auch. Sind Sie ein Freund von Natan?«
»Eigentlich nicht. Ich suche bloß meine Freundin.«
Tiefe Furchen durchschneiden die Stirn des Alten. Seine Hände können das Zittern nicht kontrollieren.
»Ich könnte mir vorstellen«, beginnt er, »dass er in diesem anderen Haus ist. Irgendwo muss er ja wohnen. In dem Haus von seiner Großmutter. Ist gar nicht so weit von hier, auf dem Land. Aber ob’s da ein Telefon gibt, ich weiß nicht …«
Liam versucht, den Alten nicht anzustarren. Weiterreden soll er, bloß keine Katastrophe wittern.
»Ah, okay. Wie weit ist das denn?«
»Ach, ich würd mal sagen, so 80 km. Mit dem Auto ist man in ’ner Dreiviertelstunde da. Natans Eltern, die haben uns ein paar Mal mitgenommen zum Grillen.«
Liam schluckt. »Können Sie mir erklären, wie ich da hinkomme?«
»Zu dem Haus? Wenn Sie meinen … Aber ihr jungen Leut habt doch diese Dinger da …« Er weist auf Liams Mobiltelefon. »Können Sie ihn damit nicht anrufen?«
Als hätte er etwas geahnt, vibriert das Handy. Liam schaut auf das Display: Marie , steht dort.
Jetzt nicht, denkt er und schiebt das Handy in die Tasche.
»Ach, wissen Sie, damit hat man nicht überall Empfang. Außerdem macht mir das nichts aus, dann komm ich wenigstens mal aus der Stadt raus.«
»Na gut, wie Sie meinen.«
Der Nachbar erklärt ihm den Weg. Bittet ihn sogar rein ins Haus, damit er ihn aufzeichnen kann: Die Autobahn, die richtige Ausfahrt, die Bundesstraße gerät krakelig, er kann kaum den Stift halten. Schließlich malt er einen kleinen Baum an die Stelle der Straße, an der Liam links abbiegen soll.
»Das Haus liegt nicht in der Ortschaft, versteh’n Sie? Sondern mitten in den Feldern. Deswegen müssen Sie sich an dieser großen Pappel orientieren, die steht einzeln da. Wenn sie noch nicht gefällt wurde. Ansonsten werden Sie das Haus nicht finden. Oder fragen Sie in der Ortschaft nach.«
Liam bedankt sich, steckt den Zettel in die Hosentasche.
»Sieht nach Regen aus«, sagt der Alte noch, als sie zurück vor das Haus treten. Doch Liam vermag ihn kaum noch zu hören.
Vom Auto aus ruft er im Präsidium an. Er müsse den Hauptkommissar sprechen. Die Rezeptionistin scheint sich nicht an ihn zu erinnern, sagt bloß den üblichen Standardspruch.
»Nein, Sie verstehen nicht! Es ist dringend! Ich muss einen der beiden
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