Stumme Angst (German Edition)
einfach sein kann. In der Frontalansicht wäre Natans Gesicht schwer zu erkennen gewesen. Hätte er sich gestern nicht so ins Profil gedreht, hätte Anna ihn nicht so gezeichnet, er weiß nicht, ob er ihn erkannt hätte. Doch so. Sein Herzschlag setzt aus. Das kann nicht sein! Er stand wirklich hier, an verschiedenen Tagen, hier direkt vor seiner Wohnung!
Fieberhaft geht er die Bilder durch.
23. Mai: Natan an die Hauswand gelehnt.
28. Mai: Seine Gestalt zur Hälfte angeschnitten.
3. Juni: Natan unter einem Regenschirm. Doch seine Schuhe – die sind gleich geblieben.
17. Juni, 26. Juni, 4. Juli, 19. Juli.
Insgesamt 10 Bilder sind es, an 7 verschiedenen Tagen. Über drei Monate verteilt.
Liam greift zum Hörer und verlangt nach dem Hauptkommissar, sobald er mit der Polizei verbunden ist.
Worum es ginge, fragt ihn jemand. Er versucht, ruhig zu bleiben. Um den Fall Anna Hansen. Es wäre dringend, er hätte einen neuen Hinweis.
Die Kollegen würden sich sofort melden, sagt eine Stimme, und Liam will schreien. Nicht, nicht auflegen! Doch das Telefon steht still. 5 Minuten, 10, 15. Warum hat er sich von den Kommissaren auch nicht die Handynummer geben lassen? So was muss doch gehen, ein Diensthandy!
Irgendwann hat er den jungen Kommissar am Hörer, atmet erleichtert auf.
»Es geht um diesen Natan. Natan Mayer. Sie wissen schon, ich habe Sie gestern wegen ihm angerufen.«
Er versucht, ruhig zu atmen, so zu klingen, als würde sich seine Stimme nicht überschlagen. Er weiß nicht, ob es ihm gelingt.
»Ich habe ein paar Bilder gefunden. Bilder, auf denen er an verschiedenen Tagen bei mir vor dem Haus steht. Können Sie mir das erklären?«
»Bilder«, macht der Kommissar. »Was denn für Bilder?«
»Bilder, die ich regelmäßig mache. Von dem Sexshop hier gegenüber. Das ist ein bisschen schwer zu erklären. Am besten kommen Sie vorbei und schauen sich das an. Im Prinzip ist es auch egal. Wichtig ist nur, dass dieser Natan an verschiedenen Tagen vor meinem Haus stand. Ein Stalker, verstehen Sie?«
Am anderen Ende der Leitung bleibt es still, lediglich ein paar aufgeregte Stimmen sind zu hören, die im Hintergrund wild durcheinanderreden.
»Nicht so richtig, Herr Lorenz. Anschauen tun wir uns das. Wir kommen vorbei, sobald es geht. Bleiben sie erst mal zu Hause.«
»Und wann ist sobald ?«
»Ich habe Ihnen von dem Kind erzählt. Das sechsjährige Mädchen. Wir sind auf einem Einsatz, verstehen Sie?«
» Wann kommen Sie?«
»Heute Nachmittag. Wenn’s rundläuft. Bleiben Sie so lange zu Hause. Unternehmen Sie nichts in Eigenregie!«
»Ich will den Hauptkommissar sprechen.«
»Geht jetzt nicht. Bleiben Sie ruhig. Ich melde mich bei Ihnen.«
Was folgt, ist ein Klacken. Ein monotones, nicht enden wollendes Tuten in der Leitung. Der Kommissar hatte aufgelegt, bevor er selbst hatte unangenehm werden können. Was hatte er ihm noch sagen wollen? Dass er beim Fernsehen arbeitet. Dass so was genauso schnell an die Öffentlichkeit gelangen könnte wie der Verlust einer Sechsjährigen.
Stattdessen springt er auf, streift durch die Küche. Starrt immer wieder auf die Fotografien, die auf dem Tisch liegen.
Vielleicht gibt es eine andere Erklärung. Einen simplen Grund dafür, dass Natan vor seiner Wohnung stand. Vielleicht ist das alles bloß ein gespenstischer Zufall. Zum Beispiel könnte er was mit der Tussi aus dem Sexshop haben – ein blasses Mädchen ist es, bloß ihre Lippen sind immer geschminkt. Ansonsten kaut sie an den Fingernägeln, wenn sie dort steht, hinter der Theke. Wenn sie nicht gerade Pornos über den Ladentisch reicht oder Dildos in schwarze Plastiktüten verpackt.
Sicher, klingt logisch! Natan wird ihr Freund sein, ab und zu vor dem Laden warten und sie abholen. Ein wirklich plausibler Grund!
Der Hund hört ihn in der Küche umherstreifen. Tapst zu ihm und blickt ihn an, mit der Pfote versucht er, sich das leere Auge zu kratzen.
Sicher, das war es! Das hatte er sich im Traum gedacht. Kapitän hatte Natan so freudig begrüßt, weil er Anna an ihm gerochen hatte.
Samstag, Tag 9, Marie
D ie Tage gleichen einander, die Abende sind wie die Morgen. Der Moment, in dem Marie die Augen aufschlägt: immer gleich. Dieses Stechen in der Magengrube und das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben.
Inzwischen weiß sie, dass der Schmerz nicht gehen wird. Allenfalls dumpfer wird er, eine Wunde, die noch zu pochen vermag.
Wenn es wenigstens so wäre, dass sie etwas gewonnen hätte! Dass Liam im
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