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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina Stein
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eingeholt hat; bald wird der Regen es platt drücken. Als er aussteigt, verschwinden die letzten Strahlen zwischen den Wolken.
    Das Haus kann er durch die hohen Bäume, die es umschließen, nicht mal richtig erkennen. Doch andersherum wird auch Natan seinen Wagen nicht sehen können – und ihn gehört haben auch nicht, denn Liam hat ihn weit genug vom Grundstück entfernt geparkt.
    Er lässt den Hund im Auto, öffnet bloß das Fenster einen Spaltbreit. Und schaut sich um: kein Mensch, kein Laut, kein Empfang. Das Handy könnte er genauso gut ins Weizenfeld schmeißen. So wie man einen Stein über das Wasser hüpfen lässt. Wasser oder Weizen, was macht das schon für einen Unterschied? Wenn der Wind Wellen schlägt, möchte man etwas eintauchen lassen in dieses weite, sich wiegende Meer.
    Das Gewitter wird er zum zweiten Mal erleben. Die ersten Tropfen fallen, besprenkeln den Feldweg wie lose Gedanken, vom Himmel gestreut.
    Das Anwesen umgibt ein schulterhoher Zaun, das Tor vor der Auffahrt ist geschlossen. Doch Natans Wagen steht dort am Ende des Kiesweges. Der von Unkraut übersät ist; nicht viel anders sieht es hier aus als in seinem Garten in der Stadt.
    Mit einem Mal wird Liam ruhiger. Fühlt sich schwer, unbeweglich. Und schafft es doch über den Zaun, landet neben einer Tanne, der Boden ist weich, von einer dichten Schicht Nadeln überzogen. Lautloser kann man nicht auftreten. Doch ohnehin wird man im Haus nichts hören können. Bloß den Wind, den kann man wahrnehmen. Der durch die Tannen streift, ihre Äste in sein Gesicht schlägt. Liam geht auf alle viere. Tapst durch das Gebüsch, bis er einen besseren Blick auf das Haus hat.
    Die Gewissheit überrascht ihn nicht mehr. Seltsam taub fühlt er sich, als er es dort auf der Wäscheleine hängen sieht: das gelbe Shirt von Anna. Das er erkennt, weil es mit diesen Schmetterlingen bedruckt ist. Jetzt flattert es im Wind wie eine SOS-Fahne. Er tritt in das Dickicht zurück. Kauert sich zusammen, weil sie ihn nun doch trifft, die Angst.
    Verdammte Scheiße! Das Zittern seiner Hände, als er das Handy aus der Tasche zieht. Parkinson hat er, genau wie der alte Mann. Er wählt die Nummer des Präsidiums: einmal, zweimal dreimal. Und starrt immer wieder auf das Display: keine Verbindung. Auch Marie kann er nicht erreichen, genauso wenig wie die 110, die 112. Für eine Weile steht er still und starrt auf das gelbe Shirt. Seine Hände zittern, als er sich bückt und einen großen, schweren Ast aufhebt. Dann geht er langsam auf das Haus zu.

Samstag, Tag 9, Anna

    D ie Angst lässt uns innehalten. Uns erstarren, uns starren, Pause, Standby. Wie drei Körper, die reglos in einem Kühlhaus hängen.
    Liam hält irgendwas in der Hand. Ich kann nicht erkennen, was es ist. Ein Ast, ein Wagenheber? Bloß, dass er damit nicht gegen das Messer ankommen kann, das weiß ich. Natan hält es an meinen Hals, mit der gezackten Seite.
    Du entscheidest, wer stirbt, nicht wahr, Natan?
    Ich glaube, Liam hebt die Arme. Legt den Gegenstand zur Seite und sagt: »Bitte, Natan.«
    Mag sein, dass er das sagt. Ich kann sie nicht lesen, seine Lippen, zu grau ist der Schleier, zu groß ist die Angst. Steine in meinem Bauch, der stumme Mann hat sie geworfen, sie mir in den Mund gestopft, im Rachen bleiben sie stecken. Und brennen dort, lassen sich nicht herunterschlucken.
    Ich heule. Und kann nicht verstehen, dass das nicht klappt, Ida! Mit dem Wunsch. Das Messer müsste doch fort sein!
    »Setz dich dahin«, schreit Natan und weist mit dem Kopf auf den Stuhl, auf dem ansonsten immer er sitzt.
    »Bitte«, sagt er wieder, doch das Schreien setzt ein.
    Play, der Film läuft weiter, und schnell, schnell sprechen sie.
    »Halt’s Maul!«, brüllt Natan, selbst ich habe ihn nie so außer sich erlebt.
    Ich stelle mir vor, seine Augen irren durch das Zimmer wie die eines großen, wild gewordenen Tieres.
    »Halt bloß das Maul! Gesprochen wird, wenn ich das will!«
    Liams Blick tastet zu mir hinüber, berührt mich, sagt: Anna. Zittere ich? Die Zacken, ich glaube, die graben sich schon in meine Haut.
    »Weiß einer, dass du hier bist?«
    »Keiner.«
    »Bullshit!«
    Liam wischt sich den Regen aus den Augen fort, dann versucht er zu lachen.
    »Wenn die Polizei mir zugehört hätte, wäre ich wohl kaum alleine hier.«
    »Scheißarrogantes Arschloch! Selbst jetzt hältst du dich noch für den Mittelpunkt der Welt!«
    Liam schlägt die Augen nieder. Augen, die von dichten Wimpern umgeben sind.
    »Wie hast du

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