Stumme Angst (German Edition)
bloß die Hand danach auszustrecken, um es mir an den Hals zu halten.
Ich wünsche mir, es würde irgendwo liegen, in einem anderen Raum, in einer anderen Zeit. Natan hätte nie danach greifen können. Denn dort in der Tür steht Liam.
Samstag, Tag 9, Liam
N och halb im Schlaf, versucht er sie zu halten. Eine Idee, die ihm wichtig erscheint. Er öffnet die Augen: Dort liegt der Hund. Der sich neben ihm zusammengerollt hat. Er muss gestern Abend ziemlich fertig gewesen sein, wenn er zugelassen hat, dass das Viech zu ihm ins Bett kroch.
Ein Körper, der bleibt. Der zwar stinkt, aber treu ist.Richtig, der Hund. Sein Traum hatte etwas mit ihm zu tun, oder nicht?
Er blickt auf die Uhr, es ist noch früh. Doch wenn man zu viel säuft, findet man keinen richtigen Schlaf. Unruhig steht er auf, trinkt kaltes Wasser und fährt den Laptop hoch.
Rebecca hat ihm eine Nachricht geschickt, außerdem seine Mutter. Warum er sich nicht meldet, will sie wissen. Sie würde seit Tagen versuchen, ihn zu erreichen. Ihn und seine Schwester. Ob sie sich gegen die Eltern verschworen hätten? Genervt schließt er die Mail, beschließt, sie später anzurufen.
Sein Traum. Manchmal kommen die besten Ideen im Schlaf. Doch was hat der Hund damit zu tun?
Er beginnt, die Bilder von seiner Kamera auf die Festplatte zu schieben. Und wünscht, er könnte sie Anna irgendwann tatsächlich zeigen: die Fotos von den Post-its, von Marie, Kapitän, Torben.
Natan – den hätte er gerne fotografiert. Stattdessen betrachtet er den Gartenzwerg: Er hat die gleiche Haltung wie eine dieser asiatischen Winkekatzen.
Sein Traum handelte von Natan und Kapitän. Gemeinsam waren sie am Fluss gewesen, hatten Steine über das Wasser schnippen lassen. Anna, die kann das am besten.
»Du lebst noch nicht lange am Wasser, Liam. Du musst das noch üben!«
Bis zu zehn Mal schafft sie es, während seine Steine plump ins Wasser fallen.
Anna hatte im Fluss gelegen, in seinem Traum. Erst hatte sie gelacht, das Gesicht zur Sonne gewandt. War geschwommen, wie man es im Meer tut, wenn man sich treiben lässt. Später hatte der Traum sich gewandelt, waren die Bilder dunkler geworden. Anna, mit dem Kopf nach unten. Ihre Haare zogen im Wasser einen weiten, strahlenförmigen Kranz. Der still stand, bloß mit den Wellen vorantrieb.
Natan hockte am Ufer neben dem Hund. Natan – traurig .
Traurig war auch das Haus: die Seifenreste in der Spüle, die vergammelten Regalböden. Wie angespültes Strandgut lagen sie dort. Das im Regen aufweicht und in der Sonne wieder trocken wird, das diese speziell helle, ausgewaschene Konsistenz annimmt.
Liam hätte Natan fotografiert, wie Anna ihn gemalt hat: im Profil. Warum? Warum ist das so, Anna? Weil wir etwas in ihm sehen, wenn er das Gesicht zur Seite dreht?
Doch das erklärt nicht den Traum. Warum der Hund mit Natan am Ufer stehen blieb, obwohl er ihn zu sich rief. Anna, die zog Liam irgendwann aus dem Wasser. Drehte ihren Körper um, ihre Lippen waren blau, aber das kann nicht sein, das ergibt keinen Sinn, im Sommer!
Wieso blieb das bescheuerte Viech am Ufer stehen? Und warum rührte Natan sich nicht, warum blieben ihre Gestalten so reglos, anstatt ihm zu helfen? Fast so, als hätten sie sich verbündet. Als hielte irgendeine Gewalt sie in die Erde gerammt.
Er fügt die Bilder in einen Ordner ein. Öffnet auch ein paar andere Fotos, die er von Anna hat; viele sind es, Stunden könnte er mit ihnen verbringen.
Welches war eigentlich das erste Bild, das sie vom ihm gemacht hat? Richtig: Er, der aus dem Sexshop tritt. Sein Gesicht, das hoch in die Kamera schaut, er grinst wie ein Idiot. Ein Idiot, der verliebt ist.
Er schnappt sich den Karton, sucht das Foto heraus. Wann war das gewesen? Im Mai. Er zieht einzelne Bilder heraus, betrachtet die Personen. Manche kommen mit Krawatte aus dem Laden. Mit Krawatte und Aktentasche; was sie gekauft haben, bleibt darin verborgen. Er findet den Penner mit den Alditüten, ein paar Mal hat er ihn erwischt. Er möchte über ihn lachen, wie Anna es getan hat, doch es gelingt ihm nicht.
Erst durch ihre Wiederholung fällt sie ihm auf. Eine Gestalt am Rande des Bildes. Die da steht, als gehörte sie nicht recht dorthin. Als wäre etwas falsch daran, dort so zu stehen: das eine Bein ausgestreckt, das andere angewinkelt und rückwärts an die Hauswand gelehnt.
Das Gesicht zur Seite gedreht, so wie er es gestern getan hat.
Liam schaut auf eine Reihe von drei Bildern und begreift, dass es wirklich so
Weitere Kostenlose Bücher