Stumme Angst (German Edition)
mich gefunden?«
»Dein Nachbar sagte mir, dass du noch ein zweites Haus hast.«
»Dieser beschissene Opa! Warum kümmert der sich nicht um seinen eigenen Scheiß!«
Natan brüllt gegen das Gewitter.
»Schließ das Fenster«, fordert er Liam auf, und kurz darauf breitet sich etwas wie Stille im Zimmer aus.
»Warum bist du wieder zu mir nach Hause gekommen?«
»Ich finde mein Handy nicht. Dachte, ich hätte es bei dir zu Hause liegen lassen.«
Ich spüre, dass er lügt. Höre es am Tonfall seiner Stimme und kann nur hoffen, dass Natan es nicht bemerkt.
»Und die Bullen? Wann hast du zuletzt mit denen gesprochen.«
Liam zuckt mit den Schultern.
»Vor ein paar Stunden. Die wollten nichts machen, weil sie versuchen, ein kleines Kind zu finden. Das kannst du auf jedem Radiosender hören.«
»Halt’s Maul! Mann, wie du dich aufspielst! Solltest dich mal sehen. Warst wohl immer der Mega-Man, was? Hast immer im Mittelpunkt gestanden, hattest immer alles unter Kontrolle.«
Liam, möchte ich sagen. So funktioniert das nicht. So kannst du nicht mit ihm reden! Soll ich es versuchen? Ich öffne den Mund, doch kein Ton kommt heraus, noch immer brennen die Steine im Hals. »Geh da zum Tisch«, fordert Natan. Ich sehe zu, wie Liam aufsteht, wie er auf Anweisung von Natan eine kleine Flasche aus der Schublade nimmt.
Liam starrt auf das Etikett. Schaut dann hoch zu Natan, da ist ein Flackern in seinem Blick. Angst. Der stumme Mann sitzt auf seiner Schulter und winkt mir zu.
»Was ist das?«
»Ein Betäubungsmittel. Mit dem ich Anna hergebracht habe. Ich will, dass du es trinkst.«
Spreche ich wirklich zum ersten Mal? Versuche ich wirklich, Natans Hand zu streicheln?
»Natan, lass ihn. Bitte … Ich weiß, du bist nicht so ein Mensch. Du bist doch eigentlich ein guter Mensch, das weiß ich.«
Ich versuche, zu ihm aufzuschauen. Doch mein Kopf, ich kann ihn nicht heben, kann kaum die Augen öffnen. Und habe ich überhaupt gesprochen? Hat er verstanden, was ich gesagt habe? Oder hab ich genuschelt, bloß ein wenig gestöhnt? Ich weiß es nicht. Ich glaub, ich bin nass, da unten. Ein Tier, das sich einnässt, weil es Todesangst hat. Meine Augen wollen zufallen. Lass nicht zu, dass der stumme Mann dich berührt, Liam. Lass nicht zu, dass er dein Gesicht streift.
»Ganz ruhig, Anna«, glaub ich zu hören. Ich wünschte, Liam hätte es gesagt.
Doch das war Natan, der meinen Kopf zurück in die Kissen legt. Der das Messer jetzt lockerer an meinem Hals hält.
»Trink. Oder sie stirbt.«
Mag sein, dass sie sich anstarren. Ich möchte laut sagen: Bin ohnehin schon fast drüben. Blutgerinnsel. Trink das nicht, Liam, wozu auch?
»Was ist mit ihr?«
»Du hast keine Fragen zu stellen. Du trinkst die Flasche leer oder das Mädchen ist tot.«
»Bitte, Natan … Bitte. Das macht doch alles keinen Sinn!«
»Du wirst das nicht trinken, richtig? Dachte ich’s mir doch. Du bist ein Narziss! Einer, der sich selbst am liebsten hat. Um den sich alles dreht, nicht wahr? Fragst dich wahrscheinlich, ob es überhaupt Sinn macht, das Zeug zu trinken. Ob ich Anna nicht ohnehin aufschlitzen werde, genau wie dich, wenn du mal da liegst.«
Ich glaube, Liam weint, ich glaube, er fleht. Versucht mit Natan zu reden so wie ich es tun würde. Ich glaube, er macht sich klein.
»Ich zähle bis 10. Wenn du bis dahin nicht trinkst …«
»Natan, bitte, es ist vorbei.«
»10.«
»Bitte.«
»9.«
»Bitte – wir machen, was du willst.«
»8.«
»7.«
»6.«
»5.«
Die Stille ist greifbar, doch schlucken höre ich ihn nicht.
Bloß irgendwann seinen Körper, der seitlich vom Stuhl sackt. Ein dumpfes, schweres Geräusch. Sein Kopf, der auf den Boden aufschlägt.
Ich versuche zu schreien, aber alles wird schwarz.
Samstag, Tag 9, Marie
M arie sieht die Pappel, diesen einsamen Baum am Wegrand, der sich zur Erde neigt, als wolle er fallen.
Sie bremst, der Wagen schlittert ein Stück. Ihr Herz – schon jetzt rutscht es in die Hose! Sie kann kaum etwas sehen, dieser verdammte Regen, die Scheibenwischer kommen kaum dagegen an.
Der Weg ist holprig und matschig. Sie fährt im Schritttempo, bis sie Liams Wagen sieht. Ihren eigenen stellt sie dahinter, schaltet den Motor aus. Sofort strömt der Regen wie ein Sturzbach über die Frontscheibe. Als würde jemand dastehen und ganze Wassereimer auskippen. Sie betrachtet ihre Hände, der Lack beginnt an den Spitzen abzublättern. Hat alles nichts gebracht mit dem Nagelstudio.
Und natürlich hat sie
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