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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina Stein
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sofort sprechen!«
    »Beruhigen Sie sich. Ich kann Sie zu einer Vertretung durchstellen.«
    Musik trudelt in der Leitung, danach eine Frauenstimme, die ihren Namen so schnell sagt, dass er sich bloß ihren Vornamen merken kann: Verena.
    Verena, die geduldig klingt. Der er alles noch einmal von vorne erzählt: die Entführung seiner Freundin, die Fotos vom Sexshop, das zweite Haus von Natan.
    Aber was sie ihm sagt, ist nichts anderes als das, was er schon weiß: Fast alle Kollegen befinden sich in einem Einsatz; ob das Kind überlebt oder nicht, würde vielleicht von Minuten abhängen, das müsse er verstehen.
    Das wäre bei Anna vielleicht auch so, kontert er, kann nun doch nicht mehr verhindern, dass seine Stimme laut wird.
    »Nein. Das ist nicht so«, sagt sie mit einer Bestimmtheit, die ihn überrascht. »Sie haben bloß einen Verdacht. Und noch nicht mal einen wirklich konkreten. Bitte warten Sie zu Hause auf meinen Kollegen. Ich verspreche Ihnen, dass ich mich eingehend …«
    Er lässt sie nicht ausreden, sondern legt auf. Und begreift, dass er alleine ist. Dass es wirklich noch Stunden dauern kann, bis die Polizei sich seines Falles annimmt.
    Der Himmel über ihm: ein dunkles Gebräu. Als ob jemand im Eimer Farben zusammengemischt hat: erst blau, dann grau, dann schwarz. Doch der Wind hat noch nicht eingesetzt, die Luft ist noch nicht vom Geruch des Regens durchdrungen. Erst auf der Autobahn fährt er in das Gewitter. Und ruft Marie an, ihre Stimme klingt fern.
    »Hey«, sagt sie.
    »Marie, dieser Natan! Der hat noch ein zweites Haus auf dem Land. Aber das ist nicht alles …«
    »Mir ist auch noch was eingefallen«, meint sie leise. »Gestern Abend, nachdem du meintest, Natan wäre Waise. Seine Eltern, ich glaube, die sind in derselben Nacht gestorben wie die von Anna. Waren wohl in denselben Unfall verwickelt.«
    »Was!?«
    »Jetzt reg dich nicht gleich so auf! Das muss alles noch nichts heißen.«
    »Nichts heißen? Soll das alles etwa nur Zufall sein? Die Fotos, der Unfall, das Haus? Scheiße, Marie, der Typ ist ein Stalker!«
    »Liam. Du fährst jetzt aber nicht alleine dahin.«
    »Sondern?«
    »Wir warten auf die Kripo.«
    »Und wie lange wird das noch dauern?«
    »Zu mir haben sie gesagt, nicht mehr lange.«
    »Du hast sie angerufen?«
    »Ja.«
    »Und wann war das?«
    »Vor zwei Stunden. Wo bist du, Liam?«
    »Auf der Autobahn.«
    »Scheiße, du kannst das nicht alleine durchziehen! Weißt du, wie gefährlich das sein kann? Vielleicht ist der bewaffnet!«
    Der Sturm zerreißt ihre Stimme, verzerrt sie zu einem kreischenden Ton.
    »Gib … Adresse …«, schreit sie in den Hörer. Er nennt ihr die Autobahnausfahrt, die Ortschaft, die Pappel. Und weiß nicht, ob sie überhaupt ein Wort versteht, denn die ersten Tropfen schlagen gegen die Heckscheibe, beginnen zu prasseln, zu trommeln, zu schmettern.
    Ihre Stimme: Bloß noch ein ferner Ausruf: »… ist doch Wahnsinn!«
    Sein Wagen kriecht über die Fahrbahn, der Regen gleicht einer Sturzflut. Kapitän liegt still im hinteren Teil des Wagens, wie alle Hunde hat er Angst vor Gewitter.
    Marie – inzwischen kann er es kaum glauben. Dass ihr das mit dem Unfall nicht eher eingefallen ist! So was merkt man sich doch, oder nicht? Die beste Freundin lernt einen Kerl kennen, und irgendwann stellt sich heraus, dass seine Eltern in derselben Nacht starben. Sprach sie nicht sogar von demselben Unfall? So etwas brennt sich doch ins Gedächtnis ein!
    Nur ob das jetzt noch eine Rolle spielt? Er lässt Marie hinter sich, genau wie die Kripo, den Donner, den Regen.
    Als er von der Autobahn abfährt, geht das Unwetter in Sprühregen über, und die Luftschichten vermischen sich neu. Auch die Landschaft verändert sich: Wälder zerstreuen sich, werden zu Feldern, auf denen die Ähren tief hängen oder nur noch als kurze Stoppel in die Luft ragen.
    Die Pappel steht dort, wo sie sein sollte. Hochgewachsen wie eine Zypresse, die genauso gut auf irgendeinem Hügel in der Toskana stehen könnte. Er biegt links ab, vor ihm eine Hügelkuppe, dahinter eine Talmulde, der Weg schlängelt sich bis zu einem Waldstück am Horizont. Dazwischen befindet sich ein einzelnes, von Bäumen dicht umschlossenes Grundstück: Ein rechteckiges Anwesen, genau wie der Alte es ihm beschrieben hat.
    Liam kann es nicht fassen, dass dieses Haus wirklich so abgeschieden liegt. Wer wird sich schon hierher verirren? Spaziergänger vielleicht, Rehe oder der Bauer, der sein Getreide nicht schnell genug

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