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Stummer Zorn

Stummer Zorn

Titel: Stummer Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlaine Harris
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würden.
    Das Nachdenken über die jungen Gesichter, die mich bald umgeben würden, rief die Erinnerung an eine Studentin wach, die ich nie kennenlernen würde: Heidi Edmonds, Erfolgsmensch, deren Abenteuer darin endete, vergewaltigt zu werden und gebrochen wieder nach Hause zurückzukehren. Als ich schlendernd um eine Ecke bog und mich der Bibliothek gegenübersah, wurde mit klar, daß ich auf dem Weg war, auf dem der Überfall stattgefunden hatte. Ich drehte mich um, suchte die Kamelien ab, dann den Gehweg und schnaubte dann ob meiner eigenen Dummheit. Es schien mir aber, als müsse eine solche Tortur ein Zeichen hinterlassen haben. Ich sah nur den trägen Liebreiz des Parks und hörte das Summen einer durch die  Lilien streifenden Biene. Irgendwie kam mir das nervenaufreibender vor, als es eine Gedenktafel gewesen wäre.
    Vermutlich um der fleißigen Biene willen warf ich einen Blick auf die Uhr und ging ein bißchen schneller weiter.
    Die gewaltige Doppeltür in der Mitte des Erdgeschosses führte in einen zentral gelegenen gewölbten Säulengang, der, nach dem blendenden Licht draußen, kühl und sehr dunkel wirkte. Als ich auf der Suche nach der Treppe in den ersten Stock angestrengt ins Halbdunkel blickte, fragte ich mich, ob der Architekt von Houghton wohl mittelalterliche Klöster bereist hatte, kurz bevor er den Auftrag erhalten hatte.
    Rechts und links gingen leere Korridore ab. Nach einer Weile ergebnislosen Suchens wurde ich absurd hektisch. Wo hatten sie die Treppen versteckt? Es würde keinen guten Eindruck machen, zu spät bei Dr. Barbara Tucker zu erscheinen. Ich ging in alle Richtungen spähend einige zögernde Schritte vorwärts. Die Absätze meiner Schuhe hallten klack! klack! auf dem Steinboden wider. Ansonsten war es sehr ruhig.
    Zu meiner großen Erleichterung öffnete sich eine der geheimnisvollen Türen im Flur zu meiner Rechten. Ein Mann trat heraus und kam in meine Richtung. (Ich war schon darauf vorbereitet gewesen, ihn um Hilfe anzurufen, wäre er in die Gegenrichtung abgebogen). Als er näher kam, sah ich, daß er Ende dreißig war, einen leichten Bauchansatz und eine Tonsur hatte, die von blonden Locken eingerahmt wurde.
    „Entschuldigen Sie bitte", sagte ich lauter, als ich beabsichtigt hatte.
    Er erschrak. Ich war verlegen.
    „Kann ich Ihnen helfen?" fragte et höflich, nachdem et mich in der Finsternis ausgemacht hatte.
    „Sie werden mich für unsagbar dämlich halten, aber ich finde die Treppe einfach nicht." Ich zuckte zusammen. Ich lächelte affektiert einfältig. Ich hatte seit Jahren nicht mehr affektiert einfältig gelächelt.
    Er kam lachend näher. Ich sah eine Patriziernase und den leichten Ansatz eines Doppelkinns. In Gedanken verschrieb ich ihm, für ein paar Monate auf Süßigkeiten und Speisestärke zu verzichten.
    „Ich glaube, der Architekt wollte etwas so Banales wie Treppen verstecken", sagte er. „Ich bin Theo Cochran, Immatrikulationssachbearbeiter. Sie müssen sich nicht dumm vorkommen. Ich erzähle jedes Jahr ungefähr zwanzig Leuten, wo die Treppen sind. Da, sehen sie?" Er wies nach rechts. Eine Sekunde später war ich mit Mühe in der Lage, das Geländer zu erkennen. Es war aus dem gleichen Stein wie die Mauer und fügte sich perfekt in die durchdringende Düsternis.
    „Oh", sagte ich kleinlaut. „Nun gut ... vielen Dank." Komm schon, Nickie, Umgangsformen. „Ich bin Nickie Callahan. Sie hatten vielleicht gerade erst mein Studienbuch in der Hand."
    „Oh. Mimi Houghtons Freundin."
    Deutlicher Mangel an Enthusiasmus. Eine einflußreiche Freundin zu haben ist nicht immer von Vorteil.
    Theo Cochran rührte sich, wahrscheinlich, weil er sich an diesen Einfluß erinnerte. „Wir freuen uns, Sie hier bei uns in Houghton zu haben, Miss Callahan."
    „Danke", sagte ich abermals. „Ich bin sicher, ich werde in den nächsten Wochen in ihrem Büro ein- und ausgehen."
    „Das wird die gesamte Studentenschaft. In der ersten Woche ist immer die Hölle los", sagte der Immatrikulationssachbearbeiter freundlicher. Er schien sich darauf zu freuen, sich ins Gefecht zu stürzen. „Erst mal auf Wiedersehen."
    „Auf Wiedersehen." Ich begann, mit klackernden Absätzen die Treppe hinaufzugehen. Ich beschloß, fortan zu den Kursen in diesem Gebäude Schuhe mit Gummisohlen anzuziehen.
    Ich blickte die Treppe hinunter und sah die Tonsur des Immatrikulationssachbearbeiters, der sich den Flur entlang in die Dunkelheit entfernte. Sein Vorankommen ging relativ geräuschlos

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