Stummer Zorn

vonstatten. Et mußte zum gleichen Entschluß gekommen sein.
    Ich konnte jetzt unmöglich noch etwas vermasseln, da Zimmer 206 nur ein paar Meter zur Rechten des Treppenabsatzes lag. Ich sah noch mal auf die Uhr. Auf den Punkt. Ich zupfte meinen Rock zurecht und sammelte mich.
    „Kommen Sie rein", rief eine Stimme mit einem Akzent aus dem mittleren Westen, nachdem ich angeklopft hatte.
    „Barbara Tucker", sagte eine schlanke Frau mit kastanienbraunem Haar, während sie hinter ihrem Schreibtisch hervorkam, der von jeder erdenklichen Form von Druckerzeugnissen bedeckt war: Bücher, Notizbücher, Formulare, Aktennotizen, Verzeichnisse. Ich blinzelte. Das Büro schien nach der Höhle im Untergeschoß vor lauter Licht zu strahlen.
    „Nickie Callahan", sagte ich zu herzlich. Ich schüttelte Barbara Tucker die Hand und setzte mich auf den einzigen verschrammten Holzstuhl, der nicht vor lauter Büchern und Dokumenten überquoll.
    Die Frau setzte sich, schob die Brille auf ihrer schlanken Nase ein Stück nach oben und lächelte mich an. Sie hatte unauffällige Züge, aber ihre Haut war schön. Ich mochte sie auf der Stelle. Ich mochte ihr Lächeln, ich mochte die überall aufgestapelten Bücher, ich mochte die Pflanzen, die in den beiden Fenstern gediehen. Ich strahlte Barbara Tucker an. Es gibt Frauen, die mich auf den ersten Blick nicht mögen und mit aus Prinzip mißtrauen. Sie war sicher keine davon.
    „Sie haben sich also entschlossen, sich wieder in den akademischen Kampf zu stürzen, Miss Callahan."
    „Nickie. Ich bin zu dem Entschluß gekommen, es .sei eine gute Idee, einen Abschluß zu machen, und es ist genau der richtige Zeitpunkt."
    „Gute Entscheidung, Ich erinnere mich, daß Mimi mir erzählt hat Sie seien Model, aber ich denke, darauf wäre ich auch so gekommen."
    Ich mußte klarmachen, daß ich keine von diesen Studentinnen war, die nur im College herumsaßen, um sich einen Mann zu angeln. „Ich war früher Model", sagte ich behutsam. „Jetzt, hoffe ich zumindest, bin ich Anglistikstudentin."
    „Gut, wir schicken Sie heute noch auf den Weg zum Abschluß", sagte Barbara Tucker munter. Sie zog meine Akte aus einer vollgestopften Metallablage. „Was ist Ihr Ziel? Wollen Sie lehren?"
    Ich holte tief Luft und sank in mich. „Nein, ich werde Autorin", sagte ich und konnte nicht umhin, defensiv zu schauen.
    Barbara strich sich die Locken aus dem Gesicht und sah mich nachdenklich an. Sie fragte mich nicht, wie ich gedachte, vom unregelmäßigen Einkommen einer Schriftstellerin meine Miete zu bezahlen, und sie lachte nicht. Plötzlich lächelte sie mir wieder entgegen. „Sie werden der Don Quixote des Anglistischen Instituts sein", sagte sie. „Dann mal los."
    Fünfundvierzig Minuten lang gingen wir die Stunden, die ich an meinem ersten College angesammelt hatte, durch und erstellten eine Liste mit Kursen, die ich belegen wollte und solchen, die ich als Studentin mit Englisch im Hauptfach belegen mußte - beide waren alles andere als deckungsgleich. Schließlich arbeiteten wir einen Stundenplan aus, von dem ich mir vorstellen konnte, ihn bewältigen zu können.
    Aber ich rief mir immer wieder ins Gedächtnis, daß ich übet sechs Jahre lang nicht mehr in akademischen Kreisen verkehrt hatte. Als Barbara Formulare unterzeichnete, seufzte ich vor Erleichterung und Besorgnis.
    „Sie werden sicher eine interessante Ergänzung der Studentenschaft sein", kommentierte Barbara heiter.
    „Gibt es in Houghton viele ältere Studenten?" fragte ich.
    „Nicht sonderlich viele, aber Sie werden Gesellschaft haben, keine Sorge. Die älteren Studenten, die wir haben, erreichen fast immer bessere Noten als die im Durchschnittsalter. Sie scheinen eine genauere Vorstellung davon zu haben, warum sie aufs College gehen."
    Das war ermutigend. Ich fragte mich abermals, wie es sich anfühlen würde, die mich umgebenden neunzehnjährigen Gesichter zu sehen.
    „Ich werde vielleicht eine Mutterfigur", sagte ich kläglich,
    Barbara lachte sich halb tot. „Glauben Sie mir, Nickie", keuchte sie. „Niemand wird Sie als Mutterfigur betrachten."
    „Warum die Heiterkeit?" fragte eine Stimme hinter mir. Ich zuckte zusammen und drehte mich dann im Stuhl um.
    Ein Mann hatte seinen Kopf durch den Spalt der halbgeöffneten Tür gesteckt. Jetzt blickte er mich an, als käme er sich äußerst töricht vor.
    „Tut mir leid, Barbara, ich wußte nicht, daß du jemanden hier drinnen hast", entschuldigte er sich.
    „Komm rein, Stan, und lerne