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Stummer Zorn

Stummer Zorn

Titel: Stummer Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlaine Harris
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Wohin sollte ich gehen? Nach Hause zu Mama, die mich beweinen und sich anschließend betrinken würde? Zu meinem Stiefvater, dem guten alten Jay?
    Elaine begann, ihre Zuversicht zu verlieren. Ihre dunklen, geschwungenen Brauen zogen sich zusammen. "Aber Nickie ... wer könnte hier noch mit dir ausgehen? Ich glaube, du hast eine entsetzliche Lektion erteilt bekommen, auf die schlimme Art und Weise, du armes Herz, aber du wirst sicherlich irgendwo anders ganz neu anfangen wollen."
    Wir starrten sie an. Elaine kauerte sich vor mich, was auf damenhafte Weise in einem Rock schwer zu bewerkstelligen war; aber sie schaffte es.
    Cully sagte: „Mimi, verstehst du, was Mutter sagt?"
    „Ja", antwortete Mimi müde. Sie rieb sich mit der Hand über die Stirn.
    „Sie meint, niemand hier wird mit dir ausgehen, nachdem du jetzt beschädigte Ware bist", antwortete Mimi. „Ich glaube, sie versucht darauf anzuspielen, daß du dir deine Vergewaltigung irgendwie selbst zuzuschreiben hast."
    Elaine hatte sich aufgerichtet. Sie war nicht an Kampfansagen von Angesicht zu Angesicht gewöhnt. Sie war nicht an offene Mißachtung ihrer Tochter gewöhnt. Sie war nicht feinfühlig, aber sie hätte ein sehr dickes Fell haben müssen, um die Erbitterung und Abneigung ihrer Kinder in diesem Moment nicht zu spüren.
    „Nicht gerade ,selbst zuzuschreiben'", protestierte sie. „Es geht darum, sie glauben zu lassen, sie seien gleichwertig, darum, daß die Wohlfahrt ihnen alles zukommen läßt, was sie haben wollen, ohne, daß sie dafür arbeiten oder bezahlen müssen, und die Kleidung, die die Mädchen heute tragen ..."
    „Nein", sagte ich. „Das glaube ich nicht." Ich lehnte mich zurück in die weiche Couch und schloß die Augen. Aber ich hatte ein ungutes Gefühl in der Magengrube.
    „Du hast wahrscheinlich einfach nur einen von ihnen auf der Straße angelächelt, und er dachte sofort, es sei eine Einladung."
    Wenn Elaine Houghton so empfand, taten es andere sicher auch. Elaine hatte nie in ihrem Leben ein echtes Gefühl erlebt. Ich hoffte, ihre Kommentare würden sich einfach verflüchtigen, aber sie blieben an meiner Haut kleben, sie erstarrten. Es stand mir mehr bevor, als ich mir vorgestellt hatte.
    „Mutter, hau ab", sagte Cully ruhig. Ich spürte, wie sich seine Armmuskeln anspannten.
    „Mrs. Houghton", sagte ich, während ich die Augen öffnete und mich unter Schmerzen vorbeugte. „Hören Sie zu. Sie sind Mimis
    Matter, und ich will nicht unhöflich sein. Aber Sie müssen verstehen, wie ich mich fühle. Was letzte Nacht passiert ist ..." Ich holte Luft. „Vergewaltigt zu werden ... war in keiner Weise mein Fehlet. Selbst wenn ich splitternackt die Straße entlanggegangen wäre, hätte ich trotzdem nicht verdient, was mir passiert ist. Ich schäme mich nicht. Wenn man mir die Handtasche gestohlen hätte, würden Sie sich nicht so äußern. Das war ... eine andere Art von Verbrechen, ein ekligeres. Ein Akt des Hasses. Aber es war genausowenig mein Fehlet, wie es ein Handtaschen raub wäre."
    Während ich diesen längeren Vortrag nuschelnd durch geschwollene Lippen hielt, fragte ich mich, ob es wahr war, was ich Elaine erzählte. Ich formulierte meine Gedanken, während ich sprach. Es stimmte. Ich schämte mich nicht. Aber es war auch richtig, daß mir davor graute, daß selbst mir unbekannte Menschen ungefähr wissen würden, was in der Dunkelheit meines Schlafzimmers passiert war. Es war widerlich, mir vorzustellen, daß manche Menschen mich ansehen und versuchen würden, sich meine Vergewaltigung vorzustellen und es im geheimen vielleicht sogar genießen oder denken würden, ich hätte es auf irgendeine unerklärliche Weise verdient. Es gibt viele finstere Abgründe was das Mitgefühl betrifft. Ln der Nacht zuvor war ich in einen gefallen, der sich in einen Höllenschlund geweitet hatte.
    „Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können", sagte ich zu Elaine und mir selbst. "Aber der Mann, der mich vergewaltigt hat, will, daß ich durch das, was er getan hat, am Boden zerstört bin. Er wollte mir wehtun, und das hat er. Ich konnte nichts dagegen tun. Abet er will, daß es mir weiter wehtut. Dagegen kann ich etwas tun. Ich werde ihm diese Genugtuung nicht geben."
    Als ich endete, waren meine Hände zu Fäusten geballt. Ich meinte, was ich sagte, durch und durch, ich meinte es mehr, als ich jemals etwas gemeint hatte.
    „Nun denn", sagte Elaine schnell, „ich glaube, du machst einen Fehler, Nickie." Sie erhob sich in einer

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