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Stummer Zorn

Stummer Zorn

Titel: Stummer Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlaine Harris
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wirklich Zeit dafür", sagte sie schnell. „Nun denn, ich finde, du solltest versuchen, dich ein bißchen zu bewegen, damit du nicht steif wirst. Der Arzt möchte dich heute nachmittag noch mal sehen und deine Rippen röntgen, nur um sicherzugehen, und die Polizei will Fotos machen. Wir müssen auch einen Zahnarzttermin machen."
    Ich wollte überhaupt niemanden sehen. Ich wollte nicht, daß man mein Gesicht fotografierte. Ich wollte daheim bleiben. Ich wollte mich anziehen und lernen. Ich wollte irgend etwas Normales tun, irgend etwas Gewohnheitsmäßiges, das mich davon abhielt, mich an die vorherige Nacht zu erinnern. Aber ich mußte meiner tapferen Ansprache an Elaine gerecht werden. Ich rieb mir die Stirn. Da war eine Kluft zwischen meinem Vorhaben und dem, wonach ich mich sehnte. Es gab jetzt mehr durchzustehen, als ich in der Nacht zuvor hatte durchmachen müssen, als jemand anderes meinen Lebensfaden in den Händen gehalten hatte.
    Ich hatte meinen Lebensfaden wieder selbst in der Hand. Ich war am Leben, um mich diesen Problemen zu stellen.
    Dankbarkeit für das kostbare Leben, das ich noch hatte, kam in mit auf. Ich betrachtete das Sonnenlicht, das durch die Vorhänge fiel. Ich sah zu meinen Büchern hinüber, die auf dem Schreibtisch auf der anderen Seite des Raumes aufgestapelt waren. Ich war Gott zutiefst dankbar, daß ich in der Lage sein würde, diese Bücher noch einmal zu öffnen.
    Ich würde einen Preis für mein Leben zahlen. Es war möglich, daß ich einige Freundschaften verlor, die ich gerade erst im Begriff war zu schließen, daß sie in einer Welle von Verlegenheit und Mißverständnissen versanken. Aber was bedeutete das schon, wenn ich dafür noch am Leben war?
    In diesem Augenblick fühlte ich, daß ich niemals die wunderbare Erkenntnis verlieren würde, daß alles neu für mich war. Ich hatte geglaubt, meine Augen würden die Welt nie wieder sehen. Ich beschloß, nie wieder etwas, das meine Hände tun konnten, als selbstverständlich anzusehen. Ich betrachtete diese Hände, sah, wie die Adern noch immer mein Blut transportierten, ließ die Muskeln spielen, die auf so wundersame Weise arbeiteten. Ich sah, wie sich die Knochen unter der Haut bewegten.
    Diese Pracht, diese Schönheit ebbte nicht ab, selbst als ich unter Schmerzen aufstand, selbst als Cully mir dabei half, in die Küche zu hinken, der köstlichsten Schüssel Hühnersuppe mit Nudeln wegen, die ich je gegessen hatte.
    Später erklärte mir Cully etwas.
    „Ich habe zweimal angefangen, es dir zu erzählen, einmal an dem Tag, als ich dich nach deiner Rückkehr das erste Mal sah und dann nochmal, als wir auf dem Rückweg von der Deponie waren. Ich habe einen Freund bei der Polizei, ein Typ, mit dem ich früher im Sommer immer herumzog." Cully hatte, ebenso wie Mimi, nicht hier die Schule besucht.
    „Er hat mir erzählt, die Polizei dachte, es handle sich um einen Einzeltäter, als Heidi Edmonds vergewaltigt wurde. Ein Durchreisender oder vielleicht ein Freund, von dem niemand wußte und der sich hinreißen ließ. Aber dann hörten sie Gerüchte, daß eine andere Frau vergewaltigt worden war und es schlicht nicht melden konnte und dann noch eine.
    Also nahm mein Freund an, es handle sich um einen Serientäter. Es gab einen Vergewaltiger in der Stadt. Er brachte den Polizeichef dazu, mich aufzusuchen, mit der Idee, daß ich mir die Sache einmal ansehe. Aber es gab nichts Hilfreiches, was ich ihnen erzählen konnte. Ich habe zweimal dazu angesetzt, dich zu warnen. Aber ich entschied beide Male, daß ich dir damit eher Angst machen würde, als daß ich dich dazu brachte, achtsam zu sein. Ich dachte, du seiest sowieso auf der Hut, da du in New York gelebt hast, und nachdem Barbara vergewaltigt wurde, hielt ich es nicht für nötig, noch etwas zu sagen."
    Es hätte keinen Unterschied gemacht, und ich sagte ihm das. Sein Gesichtsausdruck entspannte sich. „Cully, selbst wenn ich mein Fenster verschlossen hätte, was ich, selbst wenn du mich gewarnt hättest, nur vielleicht getan hätte — die Polizei hat Mimi gesagt, daß die Schlösser der Fenster so alt sind, daß ein Zehnjähriger hineinge-langen könnte. Vergiß es einfach!"
    Ich hoffe, er tat es nicht. Ich tat es nie.
    Sonntag war ein weiterer Tag fernab der Normalität. Nach der Hetzerei und den Terminen am Vortag fühlte er sich leer an. Leer für mich jedenfalls; Mimi telefonierte, als gäbe es kein Motgen. Offensichtlich wollte niemand vorbeikommen, weil sie nicht wußten, in

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