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Stummer Zorn

Stummer Zorn

Titel: Stummer Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlaine Harris
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gewöhnt hatte.
    Cully beobachtete mich wortlos. Er setzte sich neben mich auf die Couch. Mir -war klar, wie mein Gesicht aussehen mußte; ich drehte mich zu ihm. Getadewegs, absichtlich, ausnahmsweise ohne Hintergedanken, sah ich ihm direkt in die Augen.
    Ich beobachtete, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte. Ich war endlich zu Cully durchgedrungen.
    Der Heiler sah einen tiefen Schnitt in einem Menschen, den et kannte.
    Ich beobachtete, wie er überlegte, was er sagen sollte. Cully, der wortgewandte Psychologe, rang nach Worten. Ich wartete ab, erfüllt von ungewohntem Ärger, den Blick an sein Gesicht geheftet.
    Er war nie ein Mensch der Berührungen gewesen, von Natur aus und durch Erziehung. Aber als die Worte nicht kommen wollten, berührte er mich. Er fand eine winzige Steile in meinem Gesicht, die nicht lädiert war und küßte sie sehr behutsam.
    Ich erinnerte mich, einmal geglaubt zu haben, ich müsse einen schweren Autounfall überleben, um einen Kuß zu bekommen. Ich hatte es geschafft. Ich wandte mich beschämt über meinen Ärger ab. Er sollte sich nicht auf ihn konzentrieren. Er war der eine Mann in Knolls, den ich sicher davon freisprechen konnte, der Vergewaltiger zu sein. Ganz gleich unter welchen Umständen, Cully hätte ich erkannt.
    „Wo ist Mimi?" fragte ich leise. Es schien wie ein unheimliches Echo von vor zwei Monaten.
    „Sie versucht, Mutter zu beruhigen. Sie sind in der Küche."
    Ich sagte unverblümt, ich wolle Elaine nicht sehen.
    „Ich weiß. Wir versuchen, sie fernzuhalten." Dann sagte er zögernd: „Ich glaube, ich werde für eine Weile hier einziehen."
    Ich empfand enorme Gleichgültigkeit. Während der langen Nacht war mein Denkgebäude aus Stolz und Unabhängigkeit, meine Intaktheit, zusammengebrochen, nachdem die Stimme aus der Dunkelheit gekommen war. Heute war ein anderes Gefüge namens Cully dahingegangen. All die Gefühle, die ich mit meiner Vorstellung von Cully verband, schienen innerhalb von fünf Minuten zu zerbröckeln. Zum ersten Mal in vierzehn Jahren war er einfach nur Cully, Mimis Bruder, der eine Frau tröstete, die er seit Jahren kannte, die beste Freundin seiner kleinen Schwester.
    Jetzt war ich eine erwachsene Frau, von dem Mädchen war nichts mehr übrig. Überhaupt keine Strukturen, und ich mußte noch mal ganz von vorne anfangen.
    Ich wußte nicht das geringste über den Mann an meiner Seite und fragte mich einen trüben Moment lang, ob ich Mimi tatsächlich kannte. Ich zweifelte daran, mich selbst zu kennen.
    Da war kein Schnickschnack mehr.
    In diesem aufschlußreichen, schmerzhaften Moment durchbrach Elaine Houghton die Grenzen und fegte ins Wohnzimmer, Mimi mit ausgetreckten Händen auf ihren Fersen, als gedenke sie, ihre Mutter physisch davon abzuhalten.
    An diesem Tag bekam ich die unverstellte Elaine zu sehen. Ich hatte immer dazu geneigt, sie mir als eindimensionale Comicschurkin vorzustellen. Natürlich war sie ein Mensch — vielleicht keine gute Mutter, aber zu Edelmut und Anteilnahme imstande. Elaine hockte sich vor mich, nahm eine meiner Hände in ihre und sagte: „Nickie, es tut mir so leid, daß dir das passiert ist. Es bestürzt mich zutiefst, daß dir das in unserer kleinen Stadt passiert ist, während du Mimis Gast bist." Es war ihr anzurechnen, daß sie nicht mehr tat, als die Zähne zusammenzubeißen und heftig zu schlucken, als sie. mein Gesicht so nah vor sich sah.
    So ist Elaine, dachte ich. Wirklich traurig, daß es überhaupt geschah, aber noch betrübter, daß es in Knolls in einem Haus der Familie passierte. Ganz offensichtlich hatte Cully seine Zuckerbrot-und-Peitsche-Technik von Elaine geerbt. Aber fast im selben Augenblick wurde mir bewußt, daß ich ihr unrecht tat. Elaine wat fraglos zu Tode erschrocken, Ihre Tochter war nur wenige Meter von einem schrecklichen Verbrechen entfernt gewesen und diesem vielleicht nur deswegen nicht zum Opfer gefallen, weil sie sich im Obergeschoß des Hauses aufgehalten hatte.
    „Ich weiß, du wirst uns jetzt verlassen wollen, und das, obwohl du erst ein paar Wochen hier bist. Bitte denk nicht schlecht über uns."
    „Verlassen?" fragte ich verdutzt.
    „Ich kann mir kaum vorstellen, daß du bleiben wollen wirst", sagte sie überrascht. „Wo es doch jeder weiß ... du wirst dich wohler fühlen, wo es niemand weiß."
    „Warum?" Dumm wie ich war, konnte ich mir nicht vorstellen warum. Wie konnte ich die Unterstützung, die ich brauchte, bekommen, wenn niemand um mich herum mich kannte?

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