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Stummer Zorn

Stummer Zorn

Titel: Stummer Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlaine Harris
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längsten Brief, den ich Mutter seit Jahren geschickt hatte. Ich hatte Hoffnung. Doch ich scheute mich davor.
    Ich stieg mit Leichtigkeit und schmerzfrei die steinernen Stufen zum Vorgarten hinauf, dann die Holztreppe zur Eingangsterrasse, was mich freute. Fast gesund.
    „Mimi?" rief ich. Manchmal kam sie um der körperlichen Bewegung willen zum Mittagessen zu Fuß nach Hause, also konnte sie da sein, obwohl es ihr Auto nicht war. Ich hatte die Stoßstange von der Straße aus nicht gesehen, was normalerweise möglich war, wenn das Auto hinter dem Haus geparkt war.
    „Ich bin hier oben", rief sie aus ihrem Stockwerk des Hauses. Sie kam heruntergetrampelt, das dunkle Haar wippte auf ihren Schultern. Sie trug Attila um die Mitte, also war sie verärgert. Die Katze machte einen schuldigen, grienenden Eindruck. Seine großen grünen Augen wanderten, verlogen Zuneigung widerspiegelnd, von meinein Gesicht zu Mimis: Ich liebe euch, bestraft mich nicht.
    „Die blöde Katze hat meinen Badezusatz umgeschmissen, und jetzt bin ich spät dran", sagte sie außer Atem. Sie reichte mir den Übeltäter. Ich schüttelte ihn, umarmte ihn dann aber. Ich bin der geborene Schwächling.
    „Soll ich aufwischen?" bot ich an.
    „Nein, das habe ich schon gemacht. Darum bin ich ja spät dran. Ich renne rüber zu Alicia, anstatt zurück zum College zu laufen. Sic muß zum selben Treffen in" — Mimi warf einen Blick auf ihre winzige silberne Armbanduhr - „fünf Minuten. Ich muß mich beeilen. Ich nehme die Abkürzung durch die Hinterhöfe, vielleicht erwische ich sie noch, wenn sie gerade aus dem Haus geht."
    Den zappelnden Attila auf dem Arm folgte ich Mimi durch die Küche. Ich ließ die Katze nach draußen und öffnete den Kühlschrank, um herauszufinden, ob wir noch Birnen hatten.
    „Ihr Auto ist noch da!" rief Mimi triumphierend über die Schulter. Sie donnerte die Hintertreppe hinunter. Sie würde den Garten der alten Mrs. Harbison durchqueren, um zu Alicias Hintertür zu gelangen.
    Ich hatte eine Birne gewaschen, sie getrocknet und mich umgedreht, um die Hintertür hinter Mimi zu verschließen, als ich den Laut hörte. Ich wußte, daß er von Mimi kam, obwohl ich sie nie zuvor schreien gehört hatte. Ich ließ die Birne fallen, lief zur Hintertür hinaus, eilte die Treppen hinunter und durch die Hecke. Ich bekam Mrs. Harbison, die aus ihrem Küchenfenster spähte, flüchtig zu sehen, als ich über ihren Rasen hastete.
    „Rufen Sie die Polizei!" rief ich und sah, wie sie sich langsam umdrehte. Mimi schrie nicht mehr. Sie stand stocksteif auf der Treppe, die zu Alicias verglaster Terrasse hinter dem Haus führte. Sie hielt die Tür mit einer Hand offen. Sie war mit etwas Rostartigem beschmiert. Ich wollte nicht sehen, was Mimi sah. Ich bremste schlagartig und blieb keuchend vier Schritte entfernt stehen. Mimi drehte langsam den Kopf, und unsere Blicke trafen sich. Das Braun ihrer Iris stach erschreckend aus ihrem Gesicht hervor, das aschfahl war. Meine Kopfhaut begann zu jucken. Gegen meinen Willen bewegten sich meine Beine weiter, bis ich neben meiner Freundin stand.
    Alicias Augen standen ebensoweit offen und starrten ins Leere. Ihr Gesicht war noch grauer. Sie lag in gekreuzigter Haltung auf dem Boden der Eingangshalle. Wir mußten ihren Puls oder die Atmung nicht überprüfen; selbst ich war sicher, daß sie seit Stunden tot war. Weil ich es nicht aushielt, sie anzusehen, hob ich den Blick und schaute quer durchs Haus. Wie in einem Traum gefangen registrierte Ich langsam, daß Alicias Vordertür angelehnt war und die Riegel geöffnet waren und dachte: Barbara und ich hatten recht. Auch Alicia kannte ihn. Sie hat ihn eingelassen.
    Wir mußten auf die Polizei warten. Als die Streifenpolizisten kamen, baten sie Mimi flüchtig nachzusehen, ob irgend etwas fehlte. Ich glaubte keinen Aligenblick daran, daß die Polizei tatsächlich vermutete, der Mörder sei ein panischer Einbrecher gewesen. Aber ich nehme an, sie wollten sichergehen. Immerhin war es das erste Mal, daß det Vergewaltiget tatsächlich jemanden umgebracht hatte.
    Die Sonne schien schrecklich hell in Alicias Wohnzimmer. Sie schien herbstgolden auf die Blutflecken auf dem fahlgrauen Teppich, zeichnete mit goldener Farbe den rostroten Handabdruck auf dem Treppenpfosten nach. Ich wunderte mich, wie dieses Haus, das von Alicias Zuwendung strotzte, ihren Tod so einfach hinnehmen, wie die Sonne die Zeugnisse ihrer letzten Momente in so anmutiges Licht tauchen konnte. Ihre

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