Stummer Zorn
nach einer leisen Frage zurück.
„Ist Alicia tot?"
Ich nickte. Ich erinnerte mich, was ich vor langer Zeit von Mimi erfahren hatte: Alicia hatte Mrs. Harbison jede Woche zur Kirche gefahren. Alicia hatte die alte Dame jedes Mal angerufen, wenn sie einkaufen ging, um herauszufinden, ob Mrs. Harbison etwas brauchte. Jetzt schüttelte die alte Dame den Kopf, und Tränen begannen durch die pergamentenen Falten zu fließen, als sie sich abwandte, um zu gehen.
Mimi weinte krampfartig, nicht in der Lage, zu sprechen oder sich zu bewegen. Als ich glaubte, sie alleine lassen zu können, rief ich Cully im College an. Zehn Minuten später kam er wie ein Wirbelwind heim. Er legte die langen Arme um seine Schwester und hielt sie an sich gedrückt.
Ich war überflüssig und brauchte Zeit für mich. Ich saß in der Frühstücksecke der Küche, die Arme eng um die Beine geschlungen. Ich blickte aus dem Erkerfenster in den anmutig-ruhigen Garten, auf die letzten welkenden Rosen. Die Blüten ließen die Köpfe hängen, den Scharfrichter Frost erwartend. Zeit verging.
Cully kam, um sich mir gegenüber zu setzen. Er versperrte mir die Sicht auf die Rosen. „Ich habe ein paar Beruhigungsmittel gefunden, die von der Trennung von Richard übrig waren", erzählte er.
„Gut."
„Sie schläft."
„Gut."
Ich goß Cully eine Tasse aufgewärmten Morgenkaffee ein. Ich stellte sie ohne ein Wort vor ihm ab und setzte mich wieder hin.
Er schaute für einen Augenblick verdutzt auf den aus der Tasse aufsteigenden Dampf, als kenne er das Getränk nicht. Er zündete sich eine Zigarette an, rauchte sie und trank den Kaffee.
Nach einer Weile holte ich mir selbst eine Tasse.
„Sie hat sich ungestüm gewehrt", bemerkte ich. Ich stellte mir vor, vor mir läge eine Nadel; ich hätte sie aufgehoben, wenn ich gekonnt hätte, um mich damit stechen, nur um irgend etwas zu fühlen. Ich war nur ein grobmaschiger Behälter von vergänglichen Knochen und Haut.
Cully legte seine Hand auf meine, die zur Faust geballt auf dem Tisch lag. Ich blickte auf das schwarze Haar, das in einem Muster auf seinem Handrücken wuchs. Wenn man mich je auffordern würde, Cullys Körper zu identifizieren, dachte ich, würde ich ihn an diesem Muster erkennen.
„Sie hat sich gewehrt, darum ist sie gestorben", sagte ich. „Ich war zu verängstigt, um auch nur einen Finger zu heben, also überlebte Ich. Er kannte sie. Er kennt mich."
Ich war so einsam. Ich öffnete den Mund, und die Worte kamen heraus, aber ich wußte vorher nicht, wie sie lauten würden. Die kühle, klare Herbstluft kam durch das Fenster über dem Waschbecken herein. Sie war verpestet vom Aroma dieser letzten verfaulenden Rosen. Dieser Geruch würde mich den Rest meines Lebens begleiten.
„Sieh mich an, Cully", sagte ich, obwohl er mich schon die ganze Zeit ansah. Ich war es, die den Blick gesenkt hatte. Ich hob ihn. „Ich bin nicht mehr schön, Cully. Sieh in mein Gesicht."
Sein eigenes Gesicht war voller Schmerz. Er sah bleicher aus als Jemals zuvor, die Linien zwischen Nase und Mund tiefer.
„Ich hätte dort liegen können."
„Nein."
„Tot, Cully."
Er war schlagartig auf den Beinen und zog mich mit einem stürmischen Ruck von det Bank. Er küßte mich. Seine Finger wühlten in meinem Haar, während er meinen Kopf in den Nacken legte.
Während zwei Türen weiter der Krankenwagen eintraf, um Alicias sterbliche Überreste wegzukarren, während Ray Merrit nach Hause fuhr, um seine Ehefrau abgeschlachtet vorzufinden, während die Polizei Bilder machte und Fingerabdruckpulver über Alicias wunderschöne Möbel verteilte, während Mimi einen ruhigen medikamentösen Schlaf schlief, vergewisserten Cully und ich uns, daß wir am Leben waren, am Leben, am Leben.
Am Samstag morgen, als Mimi aufstand, nachdem sie den gesamten vorhergehenden Nachmittag und die Nacht unruhig geschlafen hatte, war Cully gegangen, um einige warme Sachen aus seiner Wohnung zu holen. Das Stechen in der Luft war eine eindeutige Warnung des Winters. Ich holte eine meiner dicken Decken aus dem Schrank im Flur und legte sie ans Ende des Bettes, nachdem ich meinen neuen Wintermorgenmantel angezogen hatte. Meine Gefühle spielten verrückt, eine Übelkeit erregende Mischung aus Freude, Trauer und Angst. Die Freude wurde vorübergehend vom Anblick Mimis Gesichts gebannt, als sie die Treppe herunterwankte und mich um Kaffee bat.
Sie zitterte vor Kälte und sah bleich und erschöpft aus; allerdings war Ray Merrit ein ebenso
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