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Stummer Zorn

Stummer Zorn

Titel: Stummer Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlaine Harris
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mich schmutzig und schuldig; ich war sehr jung. An diesem Abend packte ich meine Taschen und brachte meine Mutter dazu, mich zum Busbahnhof zu bringen. Ich improvisierte eine Geschichte, der zufolge ich ein Treffen eines Schulkomitees vergessen hatte, für das ich früher zurückkehren mußte. Als Mimi von ihrem eigenen Wochenende zu Hause zurückkam, erzählte ich ihr, was geschehen war. Danach übergab ich mich. Ich hatte immer geplant, mit Mimi aufs Houghton College zu gehen. Da ihr Urgroßvater das College gegründet hatte, war sie selbstverständlich seit ihrer Geburt eingeschrieben. Allerdings gaben Mutter und Jay ihren Anteil an dem, was mein Vater uns vermacht hatte, aus, als gäbe es kein Morgen, und da ich meinen Anteil nicht vor meinem einundzwanzigsten Geburtstag erhalten würde, hatte ich bis dahin keinerlei eigene Geldmittel. Jay, dessen Scham und Schuldgefühl in Feindseligkeit umgeschlagen waren, machte mir klar, daß es für Houghtons gesalzene Gebühren einfach nicht reichen würde. Also schrieb ich mich in einem obskuren, billigeren College ein, lebte gewissenhaft und verdiente nebenbei etwas Geld durch das Modeln für Warenhäuser und regionale Zeitschriftenanzeigen, womit ich schon während meiner Zeit in Miss Beachams begonnen hatte.
    Einer der Einkäufer bemerkte beiläufig, ich solle nach New York gehen, um mich dort als Profimodel zu versuchen. Die Idee ließ mich nicht mehr los. Ich brauchte Veränderung, und zu diesem Zeitpunkt bedeutete mir das College sehr wenig. Ich war kurz davor, einundzwanzig zu werden und erhielt schon eine Weile ein kleines stetiges Einkommen aus dem Geld, das mein Vater für mich angelegt hatte, sowie einen bescheidenen Festbetrag.
    Ich erinnere mich lebhaft, wie ich Mimi im Wohnheim in Houghton anrief, um ihr von meiner Entscheidung zu berichten. Sie war von meiner Courage verblüfft. Ich auch. Es war der Mut blanker Unwissenheit. Selbst jetzt erscheint es mir erstaunlich, daß mich die Stadt nicht verschlungen und wieder ausgespuckt hatte.
    In den ersten beiden Monaten war ich ständig extrem aufgeregt. Wo ich herkam, setzte man New York mit der Hölle gleich.
    Es hatte aber auch den Glanz der Hölle. Ungenügend mit ein bißchen Geld und einer kurzen Namensliste bewaffnet trippelte ich durch die Straßen der Großstadt.
    Zu meinem Glück zahlten sich zwei Namen auf meiner Liste aus. Ein ehemaliger Studentenverbindungs-Kollege meines Vaters half mir, eine Wohnung zu finden, bezahlte mir ein paar Mahlzeiten, gab mir einige unbezahlbare Ratschläge und zog die Hände zurück, sobald ich den Kopf schüttelte. Ein Kontakt des Einkäufers führte mich zu einer seriösen Agentur, der ich gefiel, und ich fand Anklang. Innerhalb eines Jahres war es mir möglich, aus dem Loch, das ich mir mit drei anderen Frauen geteilt hatte, in meine eigene Wohnung zu ziehen. Ich erwarb nach und nach die schönsten Möbel und Teppiche, die ich mir irgendwie leisten konnte; das war mir sehr wichtig. Ich kaufte Bücher. Ich begann, selbst ein bißchen zu schreiben. Ich nehme an, ich wollte das Models anhaftende Bild „hübsch, aber dumm" widerlegen.
    Es war ein glorreiches Jahr. Ich lebte nur für den Spiegel.
    Gegen Ende des Jahres, das auch für Mimi gut verlaufen wat, kehrte ich zu ihrer ersten Hochzeit nach Knolls zurück. Der Bräutigam war ein bodenständiger Südstaatler, den sie in Houghton kennengelernt hatte.
    In einem Anflug absoluten Wahns entschied ich mich dafür, beim Essen der Hochzeitsprobe ein ungeheuerliches Kleid zu tragen. Ich war als glamouröses Model viel zu eingebildet. Das Kleid war der schlimmste gesellschaftliche Fehltritt, den ich mir je geleistet habe.
    Ich hielt durch, obwohl ich fast anfing zu schreien, als ich Mimis Mutter das fünfte Mal raunen hörte „Nun, wissen sie, sie ist ein Model aus New York." (Elaine verteidigte Mimi, nicht mich.) Mir war klar, daß ich jahrelang „Mimis Freundin, die dieses Kleid bei ihrem Probeessen trug" sein würde. Ich kannte meine Heimat.
    Ich trank in dieser Nacht zuviel, was mit Mutters Beispiel vor Augen selten vorkommt. Zudem machte ich mir auf dem ganzen Weg zurück nach New York Selbstvorwürfe.
    An Mimis zweiter Hochzeit - der Südstaatler hatte acht Monate überdauert, Mimis Mutter hatte die Ehe totgeredet - trug ich ein absolut angemessenes, sogar strenges Outfit. Selbst nach zwei Jahren hatte ich meine Lektion nicht vergessen. Es erleichterte vieles; ich konnte das an den zustimmenden Lächeln und den

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