Stummer Zorn
nicht Alicia. Ich streckte langsam die Hand aus, sah, daß Ray sie nicht nehmen würde und ging schnell zu Mrs. Anley, die ich Jahre zuvor kennengelernt hatte. Alicia hatte mindestens einen Bruder gehabt, aber ich wußte, daß sie die einzige Tochter ihrer verwitweten Mutter war.
„Es tut mir so leid." Ich merkte, ich brachte Reue darüber zum Ausdruck, daß ich am Leben war, nicht Trauer um Alicias Tod.
„Gott segne dich, Nickie", sagte Mrs. Anley.
Sie erinnerte sich an mich. Ich wartete auf den kalten, verachtenden Gesichtsausdruck, den ich bei Ray gesehen hatte. Statt dessen umarmte mich Mrs. Anley und führte mich ein Stück beiseite. „Sei Ray nicht böse", sagte sie leise. Die Form ihres Mundes erinnerte an die Alicias. Obwohl Mrs. Anley sehr dick geworden war, war die Ähnlichkeit unverkennbar.
„Er weiß im Moment nicht, was er tut", fuhr sie fort. Sie seufzte. Sie sammelte sich. „Man hat die Wahl", sagte sie langsam, ohne zu mir aufzublicken. „Nicht immer. Aber Alicia hatte sie."
Ich war verlegen. Ich trat nervös von einem Bein auf das andere, zwirbelte am Bund meines dunkelblauen Kleides und wartete.
„Wie ich hörte ... hast du dich entschieden, es auszuhalten und durchzustehen. Meine Tochter ..." Sie sprach immer langsamer. „... entschloß sich zu kämpfen. Ich sage nicht, sie hat sich entschieden zu sterben, aber sie hat sich entschlossen, diese Chance zu nutzen. Es hat sich für sie als falsche Entscheidung herausgestellt ..." Ich hatte mich immer tiefer gebeugt, um sie verstehen zu können; sie flüsterte fast schon. Plötzlich verstummte sie und nahm ihren Platz an Rays Seite wieder ein.
Ich sah ihr nach. Inwiefern hatte ich die „Wahl" gehabt? Ich konnte mich nicht bewegen. Ich war aus einem tiefen Schlaf gerissen und in eine unabänderliche Situation gestürzt worden. Ich war sicher, daß Alicia genauso hatte leben wollen wie ich. Aber wenn es Mrs. Anley tröstete zu glauben, daß Alicia bei dieser Sache eine Spur von freiem Willen gehabt hatte ... dann begriff ich. Mrs. Anley war stolz, daß ihre Tochter so verbissen gekämpft hatte. Das war das einzige gute Gefühl, das Alicias Mutter blieb: Stolz darauf, daß ihre Tochter um jeden Zentimeter des Weges kämpfend untergegangen war. Tod vor Schande.
Cully und Mimi trösteten Ray, der auf männlich-ungeübte Art zu weinen begonnen hatte, begleitet von mächtig bebenden Schultern.
Ich stand auffällig alleine da. Ich spürte, daß jeder im Raum mich von der Seite anstarrte. Die Davongekommene.
Mit einer Woge der Erleichterung entdeckte ich die alte Mrs. Harbison, unsere Nachbarin, die in einem Durchgang zu einem anderen Raum stand. Ich flitzte so schnell ich konnte zu ihr hinüber, in der Hoffnung, mit ihr zu einer Trauergruppe zu verschmelzen. Die arme alte Dame, sie war zwischen Häuser gezwängt, die vom Bösen heimgesucht worden waren. Sie fragte sich, wie ich herausfand, ob es als nächstes zu ihr nach Hause kommen würde. Sie erzählte mir, daß sie gleich nach dem Besuch des Bestattungsinstituts zu einem ausgedehnten Besuch bei ihrer verheirateten Tochter in Macon aufzubrechen gedachte. Ich sagte, ich halte das für eine hervorragende Idee.
Der offene Bogengang führte in einen anderen, kleineren Raum. Ich hatte noch nicht hineingesehen, da ich mich auf Mrs. Harbison konzentriert hatte. Jetzt neigte die alte Dame den Kopf und sagte: „Du solltest sie dir ansehen."
Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte, drehte mich aber gehorsam um und schritt durch den Bogengang, und dort lag zu meinem absoluten Entsetzen Alicia in ihrem Sarg. Ich dachte, ich müsse schreien. Ich wich zurück, aber Mrs. Harbison hielt mich fest am Arm und schob mich unerbittlich vorwärts. Die alte Dame hegte keinen Zweifel daran, daß ich Alicia „aufgebahrt" sehen wollte; sie mußte im Laufe ihres langen Lebens so viele Menschen sterben gesehen haben, daß die Betrachtung der Gesichter der Toten für sie schlicht Gewohnheit war.
Ich war viel zu schnell neben dem glänzenden Sarg und sah hinab auf Alicia. Ihr Gesicht war blaß, glatt und still. Natürlich ...
Zum ersten Mal wurde mir die vollkommene Regungslosigkeit der Toten bewußt. Das vollständige Fehlen von Bewegung, selbst der kaum sichtbaren Atmung, schien mir so merkwürdig, daß ich mich nicht abwenden konnte. Ich fragte mich kurzzeitig, ob ich meinen Vater am Ende doch noch mal hätte sehen sollen und wie der Bestatter es geschafft hatte, Alicia so aussehen zu lassen. Ich war von Berufs
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