Stummer Zorn
mit Mimi mehr Taktgefühl und Einsicht gewonnen hatte. Sie konnte mit mir nicht aufrichtig über ihre Gefühle zu Charles sprechen. Es lag irgendein Geheimnis darin, von dem sie nicht glaubte, es mit mir teilen zu können, weil es zwischen ihr und dem Mann, den sie liebte, spielte.
„Ich weiß, er könnte und würde das einem menschlichen Wesen nicht antun." Wie oft hatten Barbara und ich daran gedacht, als wir die Namen auf unserer Liste durchgingen? „Außerdem, wenn er der Vergewaltiger wäre, hätte er im Auto nicht nur mit mir gerauft. Er hätte mich vergewaltigt. Ich hätte ihn nicht aufhalten können. Nick, ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht. Wir waren an diesem Morgen einfach verängstigt und vielleicht hysterisch. Das war mein Fehler, Dieser ganze seltsame kleine Vorfall war nur etwas, das wir uns eingebildet haben." Sie verschränkte die Hände ineinander. Sie sah mich an und sagte traurig: „Bitte mich nicht darum, dir zu erzählen, was ich weiß, Nick. Aber deinem Gesichtsausdruck zufolge kann ich dich auf keinem anderen Weg überzeugen, ich muß dir sagen, daß ich weiß, daß Charles es nicht war."
Jener nagende Verdacht kam ein Stückchen weiter aus seinem Loch. Mimi hatte mich in den vierzehn Jahren nie zuvor angelogen. Aber sie verhielt sich so seltsam. Die ganze Situation verunsicherte mich. Ich hätte nicht antworten können, selbst wenn ich etwas zu sagen gewußt hätte. Zu meinet Erleichterung kam in diesem Moment Cully, den Autoschlüssel in der Hand haltend, ins Wohnzimmer. Als wir durch die dunklen Straßen Knolls' fuhren, grübelte ich. Alles, was Mimi verlangte, war, daß wir Cully darüber in Unkenntnis ließen, daß Charles ab und zu vor der Tür stand. Vielleicht hatte sie Angst davor, daß sich Cully jetzt, da wir uns liebten, in echter Südstaatenmanier dazu verpflichtet fühlen könnte, sich für das Leid seiner Frauen zu rächen, wenn er die Identität des Vergewaltigers kannte; denn die Qualen waren ebenso Mimis gewesen wie meine. Ich hatte große Zweifel, ob diese Haltung zu Cully paßte.
Es gab tatsächlich keine Beweise, die darauf hindeuteten, daß Charles mein Angreifer war. Es gab keine handfesten Beweise gegen irgendwen, es sei denn, die Polizei hatte etwas herausgefunden; und sie würde es mir wahrscheinlich nicht sagen, wenn es so war. Ich hatte nur die Liste, und Mimi hatte in einer anderen Sache absolut recht: Die Panik, die wir an dem Morgen verspürt hatten, als Charles an die Tüt kam, konnte leicht der Anspannung und Angst, die unser Leben schon so lange begleiteten, zuzuschreiben sein. Also was auch immer sie wußte oder nicht wußte, Mimi hatte recht. Ich würde Cully nichts von diesem dummen kleinen Vorfall erzählen. Als wir schweigend durch die Nacht fuhren, reduzierte ich den Knoten aus Angst und Verwirrung, den sie in mir verursacht hatte, zu einem Krebsgeschwür des Unwohlseins.
Ich schaute zu Cully hinüber. Er sah im selben Moment kurz in meine Richtung. Die vertraute Ernsthaftigkeit auf seinem Gesicht war einem Lächeln gewichen, das ihn unwiderstehlich machte. Ich hoffte, daß ich Cully nicht als eine Art Gefühlsaspirin benutzte. Er wäre dazu bereit gewesen. Er war schließlich ein Heiler.
Das Bestattungsinstitut Grace befand sich in einem alten Herrenhaus mit Säulen. Es war frisch gestrichen, mit Teppich ausgelegt, ein gut instandgehaltener Ott. Normalerweise hätte ich es für den anmutigen Touch bewundert, den es einem ansonsten traurigen Gewerbe verlieh.
Ray Merrit und Alicias Mutter, Celia Anley, standen an der Tüt, um Trauergäste in Empfang zu nehmen. Ray war grau und sah miserabel aus, Mrs. Anley war so steif, daß sie wie eine Schaufensterpuppe aussah. Mimi begann zu beben, als sie sie sah, und ich wußte, daß sie Angst davor hatte, was sie fragen würden. Weder Ray noch Celia hatten ins Haus gedurft, bis treusorgende Nachbarn es gereinigt hatten. Cully hatte uns das erzählt; er hatte es von Alicias Tante an der Tankstelle erfahren.
Als Rays Blick meinen traf, wußte ich, ich hätte nicht kommen sollen. Ich hatte es überlebt. Ich wußte, er wünschte sich, ich sei an Alicias Stelle gestorben. Wenn der Vergewaltiger denn toten mußte, wünschte sich Ray Merrit, daß ich das Opfer gewesen wäre, nicht Alicia. In diesem Augenblick wurde Ray Merrit von der Liste gestrichen, jedenfalls soweit es mich betraf. Er hatte mich nie gemocht oder mir getraut. Wenn er der Vergewaltiger gewesen wäre, wäre ohne Zweifel ich gestorben,
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