Stummer Zorn
nächsten Tag hatten Barbara und ich ein weiteres düsteres kleines Treffen. Diesmal ging ich in ihre Wohnung. Wie ihr Arbeitszimmer war sie vollgestopft, aber sogar noch schöner — voller Blumen, Bücher und klarer, sanfter Farben.
„Gefällt es dir hier?" fragte ich, während sie in ihrer kleinen Küche heiße Schokolade zubereitete. Das Haus war ein Vier-Parteien-Wohnblock, der zwischen Bungalows ans Ende einer Sackgasse gequetscht war. Jemand mit einem freien Grundstück hatte sich entschieden, sich etwas dazuzuverdienen - vor dem Raumordnungsplan natürlich!
„Paßt schon", sagte sie, während sie Tassen aus dem Wandschrank holte. „Ich mag es jetzt, mit anderen Leuten im gleichen Haus zu leben. Ich habe das vorher nie gemocht."
Wir ließen uns mit den dampfenden Tassen im Wohnzimmer nieder. Scheu redeten wir über dieses und jenes. Augenscheinlich war Barbara genauso abgeneigt wie ich, sich hinter unsere Aufgabe zu klemmen.
„Ich kriege langsam fast zu große Angst, um weiterzumachen, Nickie", sagte sie plötzlich. „Ich weiß nicht, ob Angst die Wut auslöscht oder sie einfach ersetzt. Ich halte nicht noch mehr aus."
„Ich habe auch fast meine Grenzen erreicht", gab ich zu. „Alles hat sich verändert, seit Alicia tot ist."
„Wir sollten es lieber tun, ehe wir den Mut verlieren. Laß uns versuchen, einen Schritt voranzukommen."
Wir schienen uns beide zwingen zu müssen, unsere gefalteten Zettel herauszuholen.
„Die Liste", sagte Barbara so deutlich, als rezitiere sie ein Gedicht. „Jeff Simmons. Charles Seward. Don Houghton. Randy Matquette. Theo Cochran. Ray Merritt. Dan Kirby. John Tendall. J. R. Smith." „Was ist mit Jeffrey Tabor?"
„Mir ist eingefallen, daß Jeffrey in der Nacht von Mimis Party nicht in Knolls war. Deshalb konnte er nicht kommen. Ich hab ihm nicht einfach so geglaubt", sagte Barbara mit einem schwachen Lächeln. „Ich habe seinen Freund gefragt, der mit ihm zusammen wohnt."
„Also bleiben neun."
„Kannte Alicia J. R., Dan, oder Randy?" fragte Barbara.
„Ich weiß es nicht. Wie könnten wir das herausfinden?"
Sie schaute ziemlich deprimiert. „Wir können sie kaum fragen, nicht? Zum Donnerwetter."
„Mal sehen. Dan ist neu am Houghton und pendelt von Hill Run, hat er mir erzählt. Et ist gerade aus der Armee endassen worden. Ich glaube, die Familie seiner Fraü lebt in Hill Run. Er kommt aus Arkansas. Also sind die Chancen gering, daß Alicia ihn kannte."
Barbara wog das ab. Dann strich sie Dan Kirbys Name von der Liste, nachdem sie ihre Brille zurechtgerückt hatte.
„Minus Dan", sagte sie. „Acht."
Ich ließ mich tiefer in den Sessel sinken und faltete die Hände über dem Bauch. Barbara wirbelte den Stift in ihren Händen wie einen Miniaturtambourstock.
Wir brüteten über andere mögliche Eliminierungen. Barbara griff so plötzlich nach dem Telefon und wählte, daß ich zusammenzuckte.
„Hallo J, R,", sagte sie, „Barbara hier. Danke, gut... und dir? Gut, Hör mal, wie ist es dir beim Pokern ergangen?"
J. R. antwortete erschöpfend. Barbara rollte genervt die Augen, schaltete dann aber auf ein Lächeln um, damit die Worte den richtigen Klang hatten, während sie sprach. „Hervorragend! Vierunddreißig Dollar? Hat Randy mitgespielt? Oh. Oh, Cindy würde das nicht gefallen, da hast du recht!" Barbara machte große Augen in meine Richtung. „Ihr habt so lange gespielt?" plapperte sie auf sehr unbarbarahafte Weise ins Telefon. Wieder ein Brummen am anderen Ende. Dann nickte Barbara, und ich nahm die Liste vom Kaffeetisch und zog Linien durch zwei weitere Namen.
„Nein, ich will im Augenblick nicht lernen, wie man spielt. Ich war nur neugierig, du hast so viel darüber geredet. Richtig. Ruf mich einfach irgendwann an. Das machen wir. Klingt gut. Englischprofessoren brauchen jedes zusätzliche Einkommen, das sie kriegen können, stimmt's? Bis bald."
J. R. Smith war ein netter Typ, der mich mit ansteckender Begeisterung Archetypen im englischen Roman lehrte. Ich war froh, daß er offensichtlich vom Verdacht befreit war. Ich sah Barbara erwartungsvoll an.
Sie war ein bißchen rosa im Gesicht. „Ich schätze, ich werde lernen müssen, wie man Poker spielt", sagte sie und sah nicht widerwillig aus. „Mir ist eingefallen, daß J. R. am Donnerstag abend eine Junggesellenparty für Randy Marquette veranstaltet hat, weil Randy Cindy von der Zulassungsstelle heiratet - also am Freitag geheiratet hat. Das Pokerspielen war vorbei, als Ray um vier Uhr
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