Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stummer Zorn

Stummer Zorn

Titel: Stummer Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlaine Harris
Vom Netzwerk:
Beruhige dich.
    Ich erinnerte mich. Er war schwerer und kleiner als, sagen wir, Cully gewesen; aber in diese Kategorie fielen außer Cullys Vater noch viele andere Männer.
    Er war nicht wirklich sehr stark gewesen. Ansonsten hätte er mehr Schaden angerichtet, viel mehr. Ich berührte mein Gesicht; ich erinnerte mich. Don war nicht gerade gut in Form und mußte mindestens fünfundfünfzig sein, wahrscheinlich älter.
    Der Angreifer trug keinen Bart. Doch das tat keiner der Männer auf unserer Liste.
    Ich mußte mich aus dem Fluß der Erinnerungen reißen. Cully betrachtete mich zweifelnd, die dunklen Brauen zusammengezogen. Ich merkte, daß ich kurz vor einem Lachkrampf stand, der sich sehr unangenehm angehört hätte; ich hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, Don zu bitten, sich einmal auf mich zu legen, um zu schauen, ob sich das vertraut anfühlte. Ich verwandelte das Lachen in ein Lächeln und schenkte es Cully. Er wirkte nicht ganz zu Unrecht verblüfft; es mußte gespenstisch ausgesehen haben.
    Das schlimmste an diesen paar entsetzlichen Minuten war, daß sie in Elaines Wohnzimmer stattfänden. Alles in dem Zimmer war zivilisiert, konventionell, teuer. Der Mann, der in dieses Zimmer paßte, konnte so etwas einfach nicht tun.
    In einer Art Scheintodzustand wandte ich mich Cully zu und bat ihn, mir Einzelheiten über die Party zu erzählen, zu der wir am Vorabend von Thanksgiving eingeladen waren.
    „Einer der Psychoprofessoren veranstaltet sie", sagte er, und die Erleichterung war seiner Stimme deutlich anzuhören. Er war froh, daß ich meine miese Stimmung offenbar abgeschüttelt hatte. „Er lebt nur drei Blocks von uns entfernt. Es ist ein Kostümfest."
    „Was? Direkt nach Halloween?"
    „Es sollte an Halloween stattfinden, aber er bekam Grippe oder
    so."
    „Als was um alles in der Welt sollen wir gehen?" Es war wunderbar, sich mit diesem kleinen Problem zu befassen. Es war mir wieder gelungen. Ich hatte die Situation im Griff. Ich konnte das. Cullys
    Vater hatte vielleicht mich vergewaltigt und Alicia ermordet, und ich überlegte, als was ich zu einem Kostümfest gehen sollte. Teufel auch, ich konnte alles.
    „Ich finde, du solltest entweder als Zuckerfee oder als Wonder Woman gehen", sagte er. Das war Pur Cully ein derart erstaunlicher Kommentar und das Lächeln, das er mir dazu schenkte, war derart schief und süß, daß ich ihn fast geküßt hätte.
    „Omas Truhen stehen noch auf dem Speicher, und der Himmel allein weiß, was darin alles ist", rief Mimi von der anderen Seite des Zimmers herüber.
    Elaine dämmerte, daß Cully und ich zusammen zu einer Party gingen und daß ich seine Freundin war. Sie kniff irritiert die Augen zusammen und sah rasch von ihrem Sohn zu mir und wieder zurück. Cully fing den Blick auf, nahm lässig meine Hand und setzte mit ausdruckslosem Gesicht das Gespräch darüber, was man auf dem Speicher wohl alles ausgraben konnte, fort.
    Ich erschauderte beim Gedanken daran.
    Ich überstand den Rest des Abends, Es war so surreal zu denken, daß eine Person, die ich kannte und liebte, mich vergewaltigt haben könnte, daß ich es weder emotional noch intellektuell akzeptieren konnte.
    Ich warf Don dann und wann heimlich Blicke zu, und nach außen war er genauso nett wie immer. Sein Gesicht war freundlich wie immer, seine Glatze glänzte wie immer. Das Gespräch mit ihm war ohne Frage oberflächlich wie immer. Als er über die unbedingte Notwendigkeit einer neuen Ampel an einer Kreuzung in Knolls sprach, konnte ich mir nicht im entferntesten vorstellen, daß dieser Mund die üblen Worte ausgestoßen haben sollte, an die ich mich erinnerte.
    Ich war verwirrter als je zuvor im Leben.
    Ich werde nie begreifen, wie es mir gelang. Ich glaube, ich war in jener Nacht nur teilweise in meinem Körper. Ich glaube, ein Teil von mir stand einfach auf und ging. Der Rest kümmerte sich um alles. Ich überstand den Rest des Abends.
    Was konnte ich Barbara erzählen? Ich rechnete nicht damit, sie vor Montag zu sehen. Sie hatte am Samstag eine Verabredung mit ihrem Kollegen J. R. Smith. Sie würde lernen, wie man Poker spielte. Cully und ich gingen am Sonntag in einen nahegelegenen Naturpark, um durch das Herbstlaub zu schlurfen und mal rauszukommen. Ich überraschte Cully damit, wie enthusiastisch ich die Blätter aufwirbelte. Ich sprang, ich sang, ich redete über meine Kurse, ich erzählte ihm, daß ich den Eindruck hatte, meine Mutter sei auf einem guten Weg. Ich war den ganzen Tag über eine

Weitere Kostenlose Bücher