Stunde der Klesh
beobachtet.“
„Heute nacht, unten am Fluß, war sie bei weitem nicht so vorsichtig.“
„Das ist seltsam, nicht wahr. Vielleicht nähert sich das, was sie fürchtet, nicht dem Wasser, aber das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen … Nun, egal. Hier gibt es viele Dinge, die mein Vorstellungsvermögen übersteigen.“ Er wechselte das Thema. „Du nimmst alles, wie es kommt, hm? Hast du es schon gelernt, mit dem Strom der Ereignisse zu schwimmen?“
„Offen gesagt, bewege ich mich auf sehr unsicherem Gebiet. Mir ist so, als würde mir vieles geboten, doch ich weiß nicht, warum. Als würde ich zu etwas ganz Außergewöhnlichem geleitet, ohne daß ich den Grund dafür erfahren kann.“
„Du weißt ja, daß ich dieses Gefühl schon vor dir hatte, und inzwischen hat es sich noch verstärkt.“ Er sah zu der Stelle hinauf, an der Tenguft hockte; ihr Falkenprofil zeichnete sich scharf gegen das dunkle Gemäuer der Festung ab. „Nimm sie, zum Beispiel. Morgin hat uns gestern abend erzählt, daß die Haydars niemals freiwillig nach Incana gehen. Es gibt natürlich kein Verbot, denn es gibt keine Regierung, die solche Verbote erlassen könnte, außerdem ist das Land zum größten Teil unbewohnt, wie du selbst sehen kannst. Aber dennoch kommen sie nicht hierher, wenn nicht ganz außergewöhnliche Gründe sie dazu zwingen. Sie fürchten diese Menschen, diese kurbischen Windvögel – so nennen sie sich selbst. Vielleicht kennt Morgin den Grund nicht, vielleicht ist er auch nur zurückhaltend, aber es muß in der Vergangenheit etwas geben, das diese Leute getan haben. Flerdistar versucht es herauszubekommen.“
„Also bringt sie uns in ein Land, vor dem sie sich fürchtet?!“
„Dich hat sie hergebracht, nicht uns. Wo sollte man uns schon hinschicken – und da sie nun schon einmal unterwegs war … Außerdem ist bekannt, daß sich die Haydars nur äußerst ungern unter feste Dächer begeben. Sie glauben, daß solche Dinge die Welt der Geister beleidigen. Daher ist für sie ein Haus unrein. Dies gilt natürlich besonders für eine Festung, da diese ja ausdrücklich für die Dauer konstruiert wurde. Dennoch sieht es ganz so aus, als würde sie auch noch das restliche Stück hinaufsteigen und dich ordnungsgemäß abliefern.“
„Bei wem?“
„Diese Frage beschäftigt mich stark. Was kann sie so fürchten? Es scheint übrigens, daß sie aus ihrem Schamanentum eine starke Kraft gewinnt, die ihr nun hilft, ihre Urangst zu überwinden.“
Tenguft winkte der Gruppe. Es war Zeit zum Aufbruch. Clellendol ging noch ein paar Schritte an Meures Seite und sagte leise zu ihm: „Wie die Dinge liegen, kannst du nur nach vorn gehen, mein Freund, denn du hast hier und jetzt noch kein Hinterland erworben, in das du dich zurückzuziehen vermöchtest, wie wir im Haus der Diebe sagen.“
Meure blieb stehen. „Aber mir liegt es nicht, blind vorwärts zu tappen.“
„Wir haben aber keine andere Wahl und du am allerwenigsten. Darum geh vertrauensvoll, aber mit offenen Augen voran. Auf hoher See, weißt du, kann man überall hinsegeln, auch wenn der Wind immer nur aus einer Richtung bläst, aber in einer Schlucht kannst du nur dem Fluß auf ihrem Boden folgen. Es gibt jedoch ganz unterschiedliche Flüsse.“
„Was willst du damit sagen?“
„Manche Straßen sind breit und ausgefahren, manche Pfade sind kaum merklich abgesteckt durch kleine Zeichen am Wegesrand. Der Weg, auf dem wir gehen, wird unnatürlicher mit jedem Schritt, den wir tun. Es ist so …“ – Clellendol zögerte einen Moment, dann fuhr er fort – „… als ob es gar keinen Unterschied machte, ob wir unser Ziel kennen oder nicht. Es wird dir bald klarwerden, was ich meine. Es mag für dich so klingen, als ob ich dich überreden wollte, ein willfähriges Opferlamm zu sein, aber so ist es nicht. Du wirst eine Chance bekommen. Du mußt sie ergreifen, und dann mußt du handeln mit … kindlicher Unschuld. So wird niemand deine Handlung vorausahnen können. Nur da liegt deine Sicherheit – in der Unsicherheit.“
Danach schwieg er und konzentrierte sich auf den Anstieg. Meure folgte ihm. Als er nach den anderen Ausschau hielt, stellte er fest, daß er beinahe der letzte in der Reihe war. Seine Augen richteten sich wieder zum Gipfel.
Da sie sich ein wenig erholt hatten, kamen sie zunächst gut voran, aber bald wurden sie wieder langsamer, weil sie jetzt fast ständig auf allen vieren klettern mußten. Steine lösten sich und prasselten ein gutes Stück den
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