Stunde der Klesh
Hang hinab, ehe sie zur Ruhe kamen. Überdeutlich wurden ihre Geräusche durch die stille Luft übertragen. Meure sah sich nicht mehr um.
Er schaute nach oben. Die Festung Cucany war jetzt so nahe vor ihnen, daß er glaubte, ihre Mauern berühren zu können. Tatsächlich aber waren ihre Grundmauern immer noch ein paar Meter über ihnen. Immerhin konnte man jetzt die Art des Mauerwerks gut erkennen. Nichts an ihm wirkte modern oder elegant. Schicht um Schicht waren die roh behauenen Steinblöcke aufeinandergetürmt. Die Maurer hatten dazu keinen Mörtel gebraucht; es war recht geschickt gemacht, aber keineswegs verblüffend. Über den Köpfen der Gruppe ragten Mauervorsprünge und die Enden von Tragbalken nach außen. Durch die Verwitterung hatten die Steine einen warmen Braunton angenommen, während das Holz silbergrau ausgebleicht war. Direkt über ihnen zeichnete sich eine lange Balkon-Reihe schwarz gegen den meerblauen Himmel ab.
Tenguft war nirgendwo zu sehen.
Jetzt, da Meure genau am Fuß der Mauer stand, sah er einen kleinen Vorsprung, der an der gesamten Mauer entlanglief und so die Festung umrundete. Links, wo der Felssockel etwas anstieg, folgte der Vorsprung dieser Linie, hier nahm er die Form einer schmalen Treppe an. Oben auf dieser Treppe wartete Tenguft auf sie, doch sie blickte nicht zu ihnen hinab, sondern ließ ihren Blick in die Ferne schweifen, in die endlose Weite von Incana. Meure folgte ihrem Blick. Im Osten erhoben sich einzelne Berge und Bergkämme wie die erstarrten Wogen einer See. Der Doppelstern tauchte das gigantische steinerne Meer in orangefarbenes Licht. Am Horizont flimmerte die Luft, verschwommene Bilder erschienen und vergingen. Dieser Fernblick hatte eine hypnotische Kraft. Der Horizont war viel weiter entfernt, als es die Krümmung der Oberfläche des relativ kleinen Planeten eigentlich zuließ. Und Meure sah auch die Festungen, die Clellendol erwähnt hatte. Fast jede Erhebung in der Nähe trug ein Gebäude auf ihrem Gipfel. In vielen von ihnen blitzten in regelmäßigen Intervallen Lichtsignale auf. Die kleinen, stechenden Lichtsterne hatten nicht immer die gleiche Helligkeit. Es schien, daß sie von einer unregelmäßigen Oberfläche reflektiert wurden. Vielleicht benutzte man Wasser? Meure fühlte sich unbehaglich; er fragte sich, ob die wachsame Nervosität Tengufts sich auf ihn übertragen hatte oder ob es die aufragenden Massen der Festung waren, die ihn irritierten. Diese Burg, die auf einem kahlen, unbearbeiteten Felsen über einem unbewohnten Tal stand und in deren Innerem man sie beobachtete, über sie sprach und Nachrichten mit Nachbarfestungen über sie austauschte … Überall am Horizont flackerten jetzt die Sonnenspiegel auf, wie ein Lauffeuer schien sich die Nachricht von ihrer Ankunft zu verbreiten.
Tenguft wartete, bis alle zu ihr aufgeschlossen hatten, dann wandte sie sich um und folgte dem Mauervorsprung um die nächste Biegung herum. Meure schloß sich an.
Die Treppe führte jetzt in einigen steilen Windungen an der Mauer empor, bis sie in einen winzigen Vorhof mündete, der vor einem schmalen, hohen Bogenportal lag. Türen aus massivem Holz mit schwarzen Eisenbeschlägen versperrten den Weg ins Innere. Neben dem Tor ragte eine steinerne Fratze aus dem Mauerwerk. Aus ihrem grinsenden Maul hing an einem Strick ein metallener Tropfen, offensichtlich eine Türglocke. Ohne zu zögern, ergriff Tenguft den Strick und zog daran. Kein Laut antwortete aus der Festung.
Es dauerte eine Weile, bis das erste Geräusch aus dem Innern drang. Ein dumpfes Rumpeln ertönte, als ein schwerer Riegel zurückgezogen wurde, dann schwangen die hohen Türflügel langsam nach außen, und eine Gestalt wurde sichtbar, deren Anblick noch verwirrender war als der Tengufts und der Haydars.
Das Wesen war groß, schlank, hatte die Figur eines Menschen und trug einen Helm oder Kopfschmuck. Sein Körper war unter einem langen, schwarzen Umhang verborgen, der an die Gewänder der Haydars erinnerte. Mit seinem Kopfschmuck war es etwa so groß wie Tenguft. Soweit Meure dies feststellen konnte, trug es keine Waffen. Es war jedoch der Kopfschmuck, der seine ganze Aufmerksamkeit fesselte: Er war so breit wie die Schultern und sicher zweimal so hoch wie der Kopf, den er verbarg. Seine Form war wahrhaft außergewöhnlich, denn er war aus einer Vielzahl aneinandergefügter Prismen zusammengesetzt. Seine Unterkante lag vorn auf der Brust und seitlich auf den Schultern, die so sein Gewicht
Weitere Kostenlose Bücher