Stunde der Klesh
um aus eigenen Erfahrungen beurteilen zu können, daß Ingraine nicht so jung war, wie sie wirkte; und die Schrecken, denen sie entrinnen mußten, hatten sie kaum in Panik versetzt. Aber – ganz gleich, ob sie das wollte oder nicht – es ging von ihr ein Schutzbedürfnis aus, dem sich niemand entziehen konnte. Sie hatte es gelernt, ihr Verhalten ihrem Äußeren anzupassen. Ein feines Gespür verriet ihr die Gefühle, die ihr die anderen entgegenbrachten, und sie verstand es, sie zu ihrem Vorteil auszunutzen. Es fragte sich nun, was sie wohl als ihren Vorteil erkannt haben mochte.
Die Situation bereitete ihm Unbehagen. Meure und Halander waren nur zufällige Gefährten, keine echten Freunde, und Halander hatte sie schon an Bord des Schiffes für sich beansprucht.
Ingraines Verhalten beunruhigte Meure. Es beschwor nur neue Probleme herauf, und er war der Meinung, daß die Lage bereits kompliziert genug war.
Bisher schien sie ihn kaum wahrgenommen zu haben, doch jetzt stand sie neben ihm, strich sich ihr glänzendes braunes Haar aus der Stirn und starrte traumverloren über das Wasser. Ihre vollen Lippen verzogen sich nachdenklich.
Was hatte Cretus gesagt? Gedanken sind eine endlose Kette, aber man muß ihr so weit folgen, wie man kann. Er zweifelte nicht daran, daß er von Cretus viel lernen konnte, und er wandte Cretus’ Satz auf ihre Situation an: Ingraine hatte gespürt, daß Cretus eine starke Persönlichkeit war, und jetzt wollte sie sich diesem neuen Partner anschließen … Ingraine konnte sie in ärgere Verwicklungen stürzen als alles, was sie bisher auf Monsalvat erlebt hatten. Die Lage spitzte sich bereits zu. Er brauchte sich gar nicht umzudrehen, um Halanders aufsteigende Wut wahrzunehmen. Was würden die anderen denken? Tenguft? Audiart? Ja, und wie war es mit Cretus? Er sah sich nach innen und nach außen um, aber alle hatten sich zurückgezogen. Er war auf sich selbst angewiesen.
Sie fragte so leise, als sei es nur für seine Ohren bestimmt: „Woran denkst du gerade?“
„Wer, ich? Ja, ich dachte … äh … wieso? Ich hätte nicht geahnt, daß ich einmal solche Abenteuer erleben würde, als ich auf Tankred auf der Ffstretsha angeheuert habe.“
„Ja, schreckliche Dinge sind geschehen. Glaubst du, daß wir je von diesem … Monsalvat gerettet werden?“
„Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, aber die Ler glauben, daß irgendwann ein Spsom-Schiff hierherkommen wird. Wenn wir dann noch leben, wird es uns sicher mitnehmen.“ Er fragte sich, warum sie bei dem Wort Monsalvat gezögert hatte.
„Aber die Spsomi haben uns doch verlassen und sind bei den Jägern geblieben …“
„Ich glaube, daß sie einfach dicht bei der Absturzstelle bleiben wollten. Vielleicht hoffen sie auch, daß die Haydars es mit ihren hochempfindlichen Sinnesorganen lange vorher spüren werden, wenn ein Schiff kommt. In der Zwischenzeit können sie sich mit etwas Sport die Zeit vertreiben.“
„Und wir müssen in jeder Minute um unser Leben bangen. Ich dachte, die Jäger wollten uns auffressen. Warum taten sie es eigentlich nicht?“
„Soviel ich weiß, folgen sie bei allen ihren Taten einem System von Orakeln und Prophezeiungen. Man kann auch sagen: Ihre Geister befahlen ihnen, uns zu dieser Festung zu verfrachten. Außerdem … glaube ich nicht, daß sie uns tatsächlich verspeist hätten. Sie betrachten uns nicht als Wild. Sie hätten uns wahrscheinlich eher als lästiges Gepäck irgendwo abgeworfen oder uns an einen anderen Stamm verkauft. Wer weiß? Wir stellen für sie keine Bedrohung dar, und das hatten sie sicher schnell erkannt. Von allen Klesh, die wir bisher gesehen haben, scheinen sie am meisten zu taugen. Zumindest sind sie sehr aufrichtig, auch wenn sie ein wildes Leben führen. Ich wünschte, ein paar von ihnen würden uns dorthin begleiten, wohin wir jetzt ziehen.“
„Ich dachte, wir würden über diesen langweiligen Fluß fahren, damit wir von der Festung wegkommen. Wohin reisen wir denn?“
Meure war durchaus auf der Hut, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. Er wußte, daß Ingraine eigentlich zu Cretus sprach und nicht zu ihm, Meure Schasny. Cretus hatte sie zum Fluß und zu diesem Boot geführt; Cretus wußte, was dort liegen mochte, wo dieser stinkende Fluß sich in den stürmischen Golf zwischen den beiden südlichen Halbinseln von Kepture ergoß. Das wußte er besser als sie alle, Tenguft eingeschlossen. Wenn er also dahin unterwegs war – welchen Grund hatte er dafür?
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