Stunde der Vergeltung (German Edition)
ohne dich überstehen.«
»Du weißt nicht, wie sich das anfühlt, okay? Warum hältst du nicht einfach die Klappe und lässt mich in Ruhe?«
Ihre Worte bewirkten, dass er sich in beschämtem Schweigen abwandte. Sie hatte absolut recht. Er wusste nicht, wie es sich anfühlte, und wollte er es je herausfinden?
Mehr als eine Stunde jagten sie in feindseligem Schweigen die Straße entlang. Als sie endlich die Hinweisschilder zum Highway 205 und damit zum Flughafen von Portland passierten, hing Val einem seltsamen, unerwarteten Gedanken nach.
Mit einem Seitenblick musterte er ihr blasses Gesicht, ihre geröteten Augen. Tam mochte es vielleicht an Manieren oder mütterlichem Sanftmut mangeln, doch eine Sache war gewiss: Als ihr Kind würde man sich nie fragen müssen, ob man von ihr geliebt wurde. Tam liebte Rachel so sehr, dass sie beinahe platzte.
Was immer sie in der Vergangenheit alles verbrochen hatte, nun war sie bereit, ihre Tochter mit Klauen und Zähnen zu verteidigen. Val dachte an seine eigene Kindheit. Seine Schlussfolgerung war mehr als offensichtlich.
Rachel hatte großes Glück. Und das Mädchen wusste das. Nach ihren harten Erfahrungen hatte sie instinktiv begriffen, dass die Monster unter dem Bett nur allzu real waren. Die Mutter, die sie sich ausgesucht hatte, war perfekt, um sie gegen jedes Monster zu verteidigen.
Er schwieg noch mehrere Kilometer, dann platzte es aus ihm heraus: »Du bist eine gute Mutter.«
Tam sah ihn ungläubig an. »Und was könnte jemanden wie dich zu einem solchen Urteil verleiten?«
Val reagierte beleidigt. »Was meinst du damit: jemand wie ich? Warum nicht ich? Ich habe genau wie jeder andere das Recht auf eine Meinung.«
Sie gab ein abfälliges Geräusch von sich. »Du bist nicht wie jeder andere, Janos. Abgesehen davon hätte das arme Kind gestern entführt oder ermordet werden können, erinnerst du dich? Dank dir, wie ich hinzufügen möchte.«
Ihm platzte die Hutschnur. » Ah, si ? Vergib mir, dass ich dich davor bewahren wollte, verschleppt oder abgeschlachtet zu werden.«
»Rachel überhaupt zu adoptieren war unverantwortlich von mir in Anbetracht der Tatsache, wer und was ich bin«, fuhr sie verbittert fort. »Es ist exakt so, wie du im Shibumi gesagt hast: Ich benutze sie. Ich bin ein verrücktes, selbstsüchtiges Biest.« Sie machte eine Pause und schluckte. »Und diese Nummer, die ich gerade abziehe, muss das Verrückteste und Selbstsüchtigste sein, was ich je getan habe. Vergiss deine cleveren Argumente. Lass uns schonungslos ehrlich sein, okay? Ich spiele mit, weil ich Rache will. Aus keinem anderen Grund.« Sie schaute aus dem Fenster. »Sollte ich dabei ums Leben kommen, hätte sie es bei Erin und Connor wahrscheinlich sowieso besser.«
Ungebetene Erinnerungen schossen Val durch den Kopf. Der Tag, an dem er seine Mutter auf dem Fußboden im Bad gefunden hatte. Giulietta, das italienische Mädchen aus Palermo, eine weitere Hure in Kustlers Stall, mit der sie sich eine Weile die Wohnung geteilt hatten. Ihre kleine Tochter war eines eiskalten Wintertags in ihrer Wiege gestorben, direkt neben dem offenen Fenster, während Giulietta im Bett daneben im Heroinrausch vor sich hingedämmert hatte.
Er sah vor seinem geistigen Auge noch immer den Moment, als Giulietta wieder nüchtern geworden war. Wie sie die Hände vors Gesicht geschlagen und mit fassungslos aufgerissenen Augen in die Wiege gestarrt hatte. Schreiend. Sie hatte stundenlang geschrien, wenigstens war es ihm damals so vorgekommen. Ihre Schreie hallten noch immer wie aus weiter Ferne durch seinen Kopf. Er verdrängte die Erinnerung. Sie verursachte ihm auch heute noch ein hohles Gefühl im Magen.
»Du irrst dich. Sie hat es woanders nicht besser. Du bist eine gute Mutter. Ich weiß das. Vertrau mir. Ich habe schon eine ganze Reihe schlechte gesehen.«
Tam warf ihm einen durchdringenden Blick zu, dabei öffnete sie den Mund, um etwas zu entgegnen … und klappte ihn wieder zu. Etwas in seiner Stimme oder in seinem Gesicht bewirkte, dass sie ihre schneidende Erwiderung für sich behielt. Auch gut. Vals Nerven waren heute reizbarer als sonst. Er blickte stur geradeaus und konzentrierte sich aufs Fahren, wobei er inständig hoffte, dass sie keine Fragen stellen würde. Rückblenden in seine düstere Kindheit waren nicht geeignet, um seine Stimmung aufzuhellen.
Am Flughafen lief zum Glück alles reibungslos. In null Komma nichts streckten sie sich in den großen, bequemen Ruhesesseln der First
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