Stunde der Vergeltung (German Edition)
ihn.
Tamara hingegen überforderte Erin und ihren Mann, indem sie eine lange Liste mit den Empfehlungen des Kinderarztes hinsichtlich Rachels Ernährung, ihrer Allergien und Lebensmittelunverträglichkeiten auf Hotelbriefpapier kritzelte. Schließlich fügte sie noch Anweisungen zu den abendlichen Krankengymnastikübungen, den Knöchel- und Hüftmassagen, den Asthmamedikamenten, den Kortisontropfen gegen ihren Krupp, den Ohrtropfen und vieles mehr hinzu. Weitere Minuten vergingen. Zwanzig. Dreißig.
Connor McClouds Augen wurden nach der Hälfte des Vortrags glasig, und Erin hatte ihr eigenes Kind schon lange einer ihrer Schwägerinnen übergeben, um sich unter angestrengtem Stirnrunzeln kleine Notizen am Rand der Liste zu machen. Die Worte ergossen sich aus Tams Mund wie Wasser aus einem Feuerwehrschlauch. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, ihre Miene angespannt, ihre Augen rot.
Sie machte sich schreckliche Sorgen. Der Abschied tat ihr weh. Val hasste es, ihr wehtun zu müssen.
Er verdrängte sein schlechtes Gewissen mithilfe rationaler Argumente. Wenn sie Erfolg hätten, würde sich Tamaras und Rachels Lebensqualität immens verbessern. Sein Angebot war vermutlich ihre einzige Hoffnung, auf Dauer zu überleben. Wäre Hegel an Vals Stelle, oder hätte er einen anderen Agenten geschickt, wäre sie längst in Georg Lukschs Gewalt, und Rachel müsste irgendwo in entsetzlicher einsamer Kerkerhaft ausharren. Und sollte Novak von dem Kind erfahren …
Sein Geist scheute vor der Vorstellung zurück.
Andererseits, wäre es Tam und Rachel am Vortag gelungen zu fliehen, hätten sie eventuell eine geringe Chance gehabt, es irgendwo auf der Welt unter einem neuen Namen allein zu schaffen. Vielleicht, vielleicht auch nicht.
Und Imre wäre zu einem langsamen, grauenvollen Tod verdammt gewesen.
Val trank einen Schluck von dem starken schwarzen Kaffee. Er war bitter. Es hatte keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er hatte seine Entscheidung getroffen und den Stein ins Rollen gebracht.
»Drei Tropfen, hast du das vermerkt? Zwei Milliliter destilliertes Wasser in das Aerosolgerät, und stell sicher, dass sie dabei Elmo oder Winnie Puh guckt, sonst hast du keine Chance. Hast du das alles?«
Rachel fing an zu heulen.
»Ja, habe ich«, bestätigte Erin geistesabwesend, während sie schrieb. »Drei Tropfen, zwei Milliliter – Elmo, Winnie Puh.«
»Ich lasse dir Bargeld für die Medikamente da.« Tam fasste in ihre Handtasche. Ihre Stimme war bestimmt und gerade laut genug, um Rachels Jammern zu übertönen.
Erin verdrehte die Augen. »Vergiss es.«
»Doch!«, widersprach Tam. »Dieses Zeug aus der Apotheke ist schweineteuer. Ich kann nicht annehmen, dass ihr … «
»Vergiss es, Tam!«, meinte auch Connor, um seiner Frau den Rücken zu stärken. »Beleidige uns nicht. Und jetzt umarme um Himmels willen dieses Kind, bevor wir noch alle wegen Ruhestörung vor die Tür gesetzt werden. Musst du nicht deinen Flieger erwischen?«
Tam stieß nur ein raues, empörtes Geräusch aus, dabei schnappte sie sich das schreiende Mädchen und zog es auf ihren Schoß. Sie vergrub das Gesicht in Rachels Haar und redete ihr gut zu, während das Kind weiter ohrenbetäubend kreischte.
Aus strategischen Gründen verließ Val an diesem Punkt den Speisesaal, wie es auch viele andere Gäste taten, doch es gab kein Entkommen vor dem jammervollen Geschrei, ohne das Gebäude komplett zu verlassen. Es war einfach schrecklich.
Es folgten letzte Verabschiedungen, das Beladen von Autos und Austauschen von Kindersitzen, abschließende Ermahnungen und weitere letzte Verabschiedungen. Eine nervenaufreibende Weile später fuhren sie endlich in gesegneter Stille auf die Autobahn. Tams Hände waren verkrampft, ihr Rücken stocksteif. Ihr eisernes Schweigen war anklagend und erdrückend und lastete mit jedem Kilometer stärker auf Val.
Auf halber Strecke nach Portland ertrug er es nicht länger. »Würdest du bitte damit aufhören?«, platzte er hervor. »Es tut mir leid, dass deine Tochter unglücklich ist, aber es ist ja nicht für immer. Wir müssen das schnell über die Bühne bringen, dann … «
»Falls wir überleben«, erinnerte Tamara ihn. »Besser gesagt, falls ich überlebe. Lass uns der Wahrheit ins Auge sehen. Es ist mein Kopf, der auf dem Henkersblock liegt.«
Er stieß einen harschen Atemzug aus. »Ich habe alles in die Waagschale geworfen, damit sich das Risiko für dich lohnt. Und auch für Rachel. Sie wird ein paar Tage
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