Stunde der Vergeltung (German Edition)
sprachlos vor fasziniertem Erstaunen. Es machte Spaß, Erin auf die Palme zu bringen. Meist dauerte es eine Weile, aber wenn sie erst mal in Fahrt kam, gab es kein Halten mehr. Dann spritzte das Blut. Alle Achtung.
»Du kannst es dir nicht länger erlauben, überall nur verbrannte Erde zu hinterlassen und auch noch stolz darauf zu sein«, ließ Erin weiter Dampf ab. »Du hast eine Tochter! Kinder brauchen Familie! Je mehr, desto besser! Eine Gemeinschaft. Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen. Dasselbe gilt für dich, ob du es dir eingestehst oder nicht, du sture, pampige Zicke! Werde endlich erwachsen!«
Tam ließ ein beeindrucktes Pfeifen hören. »Wow. Was für ein Temperament.«
»Sei bloß nicht so herablassend. Denn weißt du was? Wir sind deine Familie, ob es uns gefällt oder nicht. Wir haben ein paar wirklich schlimme Dinge zusammen durchgestanden, und damit gehörst du zu uns. Gratulation. Du darfst die unheimliche Tante sein, vor der alle sich fürchten. Jede Familie hat eine.«
»Ich könnte meinen Namen ändern und untertauchen«, schlug Tam vor.
»Ach, halt doch die Klappe«, fauchte Erin. »Ich hab genug von deinem Mist.«
Tamaras Mundwinkel zuckten. »Du bist süß, wenn du in die Luft gehst«, bemerkte sie mit leicht heiserer Stimme. »Diese rosigen Wangen, der wogende Busen … «
Erin knallte ihre Tasse auf den Tisch. »Versuch es erst gar nicht. Du kannst mich nicht davon überzeugen, dass du lesbisch bist, also hör auf, mich zu provozieren.«
Tam versteckte ihr Lächeln hinter ihrer Kaffeetasse. »Ach, komm schon. Es lässt mehr Raum für Spekulationen und gibt mir mehr Freiraum.«
»Du hast genügend Freiraum«, fuhr Erin auf. »Und wir sind es leid zu spekulieren.«
Unwillkürlich sah Tam zur Tür hinüber, wo Rosalias faszinierte Miene verriet, dass sie Englisch weit besser verstand, als sie es sprach. Verlegen wandte die Frau den Blick ab und scheuchte die Kinder tiefer ins Wohnzimmer.
»Es ist schwer, dich einer Kategorie zuzuordnen«, sagte Erin und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Wie definiert man eine Freundin wie Tam? Nun, sollten mordlüsterne Terroristen meine Familie mit einer Bombe bedrohen, wäre sie da, um uns mit juwelenbesetzten Handgranaten heldenhaft zu retten. Aber würde sie mich auch zum Flughafen fahren? Nie im Leben.«
Das Lächeln entwischte ihr, bevor Tam es zurückhalten konnte. »Warum sollte ich? Wie verflucht langweilig. Dafür sind doch Männer da. Wieso sollte man sich mit ihnen rumschlagen, wenn sie nicht die entsprechende demutsvolle Unterwürfigkeit an den Tag legen?«
Erin gab ein missbilligendes Geräusch von sich. »Da wir gerade von Männern, demutsvoller Unterwürfigkeit und all den positiven Aspekten sprechen, was soll ich dem hübschen Europäer nun ausrichten? Dass du nur an Geschäften mit hässlichen, schlecht riechenden, mies gekleideten Männern interessiert bist?«
Tam nahm die Karte zur Hand, die Erin ihr gegeben hatte, und betrachtete sie stirnrunzelnd. »Richte ihm gar nichts aus. Nimm nicht mal seine Anrufe entgegen. Ich werde ihn überprüfen. Immerhin besteht die reelle Chance, dass er mir einfach nur ein Messer ins Auge rammen will.«
Erin gab einen frustrierten Laut von sich. »Warum kann für dich nie etwas einfach nur nett oder normal sein? Eine Gelegenheit für ein gutes Geschäft, ein anziehender Mann für einen kleinen Flirt? Ein Begleiter für eine Hochzeit? Warum muss es immer um Blut und Gedärme, Leben und Tod gehen?«
Die Naivität dieser Frage, dazu Erins trauriger, schwermütiger Tonfall berührten die weiche Seite, die tief in Tam verborgen war. Ihre Stimme klang so sanft, dass sie sie kaum wiedererkannte. »Es existiert für mich kein normal oder nett, Erin. Das gab es nie und kann es auch niemals geben. Aber keine Sorge. Ich bemühe mich nach Kräften. Es geht mir gut. Wirklich.«
Erin schaute kummervoll drein. »Aber ich möchte etwas Besseres als das für dich.«
Mit großer Anstrengung hielt Tam die sarkastische Antwort, die ihr auf der Zunge lag, zurück. »Ich weiß deine Anteilnahme zu schätzen«, erklärte sie steif. »Auf meine Weise – wenn das für dich einen Unterschied macht.«
Erin senkte den Blick und blinzelte mehrmals. Einige qualvolle Sekunden verstrichen, jede spannungsgeladener als die davor. Dann platzte Tam die Hutschnur. »Wage es bloß nicht, zu flennen! Ein sentimentaler Moment ist genug, okay? Mehr ertrage ich nicht!«
Erin schniefte heftig und wischte die Tränen genervt weg.
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