Stunde der Vergeltung (German Edition)
»Ach, leck mich.«
Tam stieß einen Seufzer geheuchelter Erleichterung aus. »Gott sei Dank. Das ist schon besser«, kommentierte sie. »Zurück auf gewohntem Terrain.«
Leise vor sich hingrummelnd marschierte Erin an ihr vorbei und schnappte sich ihren Sohn. Kev protestierte lautstark, als er von seinem gebannten Publikum fortgerissen wurde, und dann, oh Freude, beschwerte sich auch Rachel, weil man sie ihres brandneuen lebendigen Spielzeugs beraubte. Und so brach wieder einmal das verrückte Chaos aus: kreischender Widerstand, Windel wechseln, mit Keksen bestechen, Flaschen, Schnuller, Lätzchen und Feuchttücher wieder in Taschen einpacken und weiß Gott, was noch alles. Als Rachel sich, Elmo sei Dank, vor dem Fernseher endlich beruhigte und die mit einem Plüschesel und ihrem Baby beladene Erin die Treppe hinabwankte, stand Tam kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Grundgütiger. Tam hatte schon geholfen, in Drittweltländern Staatsstreiche zu initiieren, die weniger kompliziert gewesen waren.
Sie lief hinter Erin her. »Ich komme mit runter und schalte die … «
»Ich schaff das schon«, würgte Erin sie ab. »Ich kenne die verdammten Codes in- und auswendig. Alle acht. Auf Wiedersehen.« Ohne einen Blick zurück stolzierte sie davon, bepackt mit ihrem heulenden, strampelnden Sohn und den wütend schaukelnden Wickeltaschen. Sie kochte vor Zorn.
»Lass den Alarm ausgeschaltet«, rief Tamara Erins kerzengeradem, sich entfernendem Rücken nach. »Rosalia muss sowieso bald gehen.«
Erin murmelte etwas Unflätiges, ehe die Tür zum Sicherheitsraum hinter ihr zuknallte. Tam tat es mit einem geistigen Achselzucken ab, dann betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen die Visitenkarte, die auf dem Tisch lag, nahm sie auf, betastete sie.
Trotz ihrer düsteren Vorahnung war ihre Neugier geweckt. Sie war in Versuchung, der Sache auf den Grund zu gehen. Vielleicht würde sie sie doch nicht sofort verwerfen, ohne zuvor Nachforschungen angestellt zu haben. Rachels Probleme hatten sie derart auf Trab gehalten, dass es schon eine ganze Weile her war, seit sie sich zuletzt um irgendwelche Verkäufe bemüht hatte. Ihre Kasse konnte immer Bargeld gebrauchen. Sie mochte Bargeld.
Tam starrte auf den Teller mit den übrig gebliebenen Keksen in der Mitte des Tisches. Der Geruch von Butter strömte ihr in die Nase.
Aus einem perversen Impuls heraus nahm sie einen. Sie inspizierte ihn von allen Seiten, beschnüffelte ihn in all seiner schillernden zuckerigen, cholesterinhaltigen, Arterien verstopfenden, Insulinresistenz verursachenden, Cellulite fördernden Pracht. Tödlich auf seine eigene Weise, wie eine ihrer Schmuckkreationen.
Rosalia tauchte in der Küchentür auf. Tam versteckte die Hand mit dem Keks unter dem Tisch, als hätte man sie beim Klauen ertappt.
Zu spät. Sie erkannte es an dem verstohlenen erfreuten Lächeln, das die ältere Frau so angestrengt zu verbergen versuchte. »Morgen um neun?«, fragte Rosalia.
Tam murmelte eine Bestätigung. »Sie können direkt rausgehen«, sagte sie. »Die Alarmanlage ist deaktiviert. Erin hat sie ausgeschaltet gelassen.«
Rosalia nickte zu dem Gebäckteller. »Genießen Sie sie. Nächstes Mal backe ich meine Karamellsahneplätzchen. Die müssen Sie unbedingt probieren. Sie werden Ihnen bestimmt schmecken.«
Tam wand sich innerlich. Sie hatte ein Monster erschaffen. »Bis morgen dann.«
Fröhlich summend eilte Rosalia die Treppe hinunter. Tam betrachtete den Keks in ihrer Hand. Selbstgefällig und ungerührt starrte er zurück.
Ach, zur Hölle. Irgendwann würde sie sowieso sterben. Sie biss ein Stück ab und kaute. Ein Zuckerfeuerwerk explodierte in ihrem Gehirn. Wow.
Während sie ihn langsam aufaß, realisierte sie überrascht, dass es sie ernsthaft interessierte, wie attraktiv und charmant ein Kerl sein musste, um eine Frau zu beeindrucken, die ihren Mann derart stürmisch liebte, wie Erin es tat. Er musste Voodoo beherrschen. Wahrscheinlich hielt er sich für Gott höchstpersönlich, was entsetzlich öde wäre. Wahlweise war er ein skrupelloser Auftragskiller, der darauf angesetzt war, sie zu beseitigen. Was zwar wesentlich interessanter wäre, bei einem Treffen aber auch zu Tams immensem Nachteil. Sie gönnte sich noch einen Bissen tödlicher Glückseligkeit, den Blick weiter auf die Visitenkarte geheftet. Janos. Könnte ungarisch sein. Falls der Name echt war, was sie jedoch bezweifelte.
Tam musste über die Ironie des Ganzen lächeln. Die brave, kleine,
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