Stunde der Vergeltung (German Edition)
Staunens hob der Fahrer eine Hand zu dem Loch in seiner Kehle. Zähflüssiges Blut strömte durch seine Finger. Sein Oberkörper kippte nach vorn, dann hing er wie eine Puppe über dem Schaltknüppel.
Zwei weitere Schüsse. Es folgte eine atemlose, scheinbar nicht enden wollende Stille. Tam hockte wie versteinert auf dem Plastikboden.
»Steh auf, Steele. Du musst fahren.«
Es war Janos’ leicht akzentuierte Stimme. Sie klang ruhig, gelassen, gleichmäßig.
Tiefe Erleichterung durchströmte sie, und Tam hätte sich deswegen ohrfeigen können. Dieser Mann war weder ihr Freund noch ihr Retter, ganz egal, wie sich die Situation im Moment darstellte. Ganz im Gegenteil. Höchstwahrscheinlich war er der Hauptgrund, warum sie überhaupt in diesem Schlamassel steckte. Gut möglich, dass sie gezwungen sein würde, ihn zu töten.
Als ob das so einfach wäre.
Sie atmete zitternd aus, dann spähte sie unter den Sitz, um Rachels zusammengekauerte Gestalt in der Dunkelheit zu suchen. Sie streckte den Arm aus und tastete umher, bis sie einen Zipfel von Rachels Mantel zu fassen bekam.
»Sind sie tot?«, wollte sie von Janos wissen. Die Frage klang zittrig, naiv und verängstigt.
»Ich werde mich vergewissern. Du lenkst den Bus.«
»Du lenkst den verdammten Bus, Janos«, fauchte sie. »Ich muss mich um Rachel kümmern.«
Janos stieß eine Verwünschung auf Rumänisch über die sexuelle Verderbtheit ihrer Vorfahren aus. Ohne ihn zu beachten, schob Tam sich unter den Sitz, zog Rachel hervor und in ihre Arme.
Das übelkeiterregende Knacken eines Männergenicks, das gebrochen wurde, ließ sie zusammenzucken. Autsch. Benimm dich wie eine Erwachsene, Tam , schalt sie sich selbst. Sie war zu weich geworden.
Janos beugte sich vor und musterte Fetthals, der seitlich in seinem Sitz hing, durch die alberne runde Brille. »Wie lange wird das Betäubungsmittel, mit dem du ihn ausgeknockt hast, wirken?«
»Nicht lange«, antwortete sie. »Zehn Minuten, höchstens fünfzehn. Es war eine geringe Menge.«
Janos richtete seine Pistole auf den Nacken des Mannes.
Tam setzte sich ruckartig auf. »Wage es bloß nicht!«
Er schaute sie verständnislos an. »Was?«
»Du Arschloch!«, zischte sie. »Nicht vor dem Kind! Hast du sie noch alle?«
Er verdrehte die Augen, ließ jedoch von Fetthals ab und begab sich in den vorderen Bereich des Busses. Sanft hob er den nach unten baumelnden Kopf des Fahrers an, von dem das Blut herabtropfte, und sah ihm in die Augen. Er nahm sein Handgelenk und suchte nach einem Puls. Sein Blick huschte zu ihr. Er schüttelte den Kopf.
Janos fasste den großen, schweren Körper des Fahrers unter den Achseln und hievte ihn ohne erkennbare Mühe auf den erstbesten Passagiersitz. Die Beine des Mannes ragten in den Gang hinein. Tam drückte Rachels Gesicht an ihre Brust. Nicht dass das Kind irgendetwas mitbekommen würde. Es hatte sich in seine eigene Welt zurückgezogen, und seiner Miene nach war es keine schöne.
Janos glitt auf den Fahrersitz und legte den Gang ein. Mit quietschenden Reifen scherte er auf die Straße ein und gab Gas.
»Wohin fahren wir?«
»Zu dem Parkplatz, wo dein Auto steht.«
»Woher weißt du, wo mein … ?«
»Später«, schnitt er ihr brüsk das Wort ab. »Ich muss nachdenken.«
Ach, wirklich. Gott bewahre, dass sie einen Mann davon abhalten wollte. Fast hätte sie es laut gesagt, aber solange sie nicht haargenau wusste, was hier vor sich ging, schaffte sogar sie es, ihre große Klappe zu halten.
Zumindest für eine Weile.
Es bereitete ihr große Sorgen, dass Rachel weder sprach noch Augenkontakt suchte. Zudem klammerte sie sich nicht an ihrem Hals fest, wie sie es sonst tat, wenn sie sich fürchtete. Sie war schlaff, feuchtkalt und blass, was Tam mehr ängstigte, als es die Kugeln vermocht hatten. Sie hätte einen kreischenden, strampelnden Wutanfall dieser kompletten Teilnahmslosigkeit unbedingt vorgezogen. Kalte Luft strömte durch die zerbrochenen Fenster.
Der Bus verlangsamte, bog scharf ab und holperte über die Schwelle, die zu dem Parkplatz führte, wo Tam ihren Wagen zurückgelassen hatte. Die Schranke öffnete sich für den Bus automatisch. Der Mann im Wachhäuschen sah noch nicht einmal von seiner Zeitschrift auf.
Niemand wartete an der Bushaltestelle, als Janos davor bremste. Ein unfassbarer Glücksfall. Tam hatte sich auf eine hässliche öffentliche Szene gefasst gemacht, sobald der Bus stoppte, und sich nicht gerade darauf gefreut.
Janos schaute sich zu ihr um.
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