Sturm der Barbaren
Eichenschreibtisch und betrachtet Lorn mit gespanntem Blick. Hinter dem schmalen Torbogen erkennt Lorn das Schlafgemach, die dunkelblaue Tagesdecke liegt faltenlos auf dem schmalen Bett und der Tisch neben dem Bett wirkt genauso aufgeräumt wie der im Wohngemach.
»Würfel?« Lorn entdeckt die sechs weißen Würfel auf dem Tisch. »Ich vermute mal, in deinem Schrank hängt die Uniform eines bartlosen jungen Lanzenkämpfers.«
»Nein.« Jerial lächelt. »Die eines jungen Händlers, eines verzogenen Jünglings, der mehr Geld als Verstand besitzt, der die meiste Zeit nur verliert, jedoch nur wenig, und selten gewinnt, dann aber richtig. Er ist kein, sagen wir, gelehrter Buchhalter.«
Lorns Augen wandern von den Würfeln zum Schrank und dann zurück zu den Würfeln.
»Warum nicht?«, fragt Jerial. »Ich kann Heilerin werden oder eine Zuchtstute. Keins von beiden wird mir Reichtum oder Unabhängigkeit einbringen.«
»Du hast das Gold an der Börse investiert?« Lorn zieht die Augenbrauen hoch.
»Nein. In die Bank der Klanlosen Händler. Es bringt zwar keine Zinsen, aber dafür werden auch keine Fragen gestellt.«
»Wie etwa nach Jeron’mer?«
»Könnte man sagen«, antwortet Jerial, »aber ich würde es begrüßen, wenn du nicht weiter fragst.«
»Was ist, wenn du gezwungen wirst, eine Zuchtstute zu werden? Soll ich es dann Vater erzählen?«
Jerial nickt, dann lacht sie trocken. »Ich mag Cyad, Lorn, aber nicht so sehr, dass ich jemanden heiraten würde, den ich verabscheue. Bis jetzt ist es mir gelungen, Vater von Männern wie Ciesrt abzulenken …«
»Ich verstehe.« Die Worte seiner Schwester erinnern Lorn – wieder – daran, dass er noch etwas gegen die drohende Vermählung von Myryan und Ciesrt tun muss. Seine Augen erforschen Jerials Gesicht und nehmen das entschlossene Kinn und die harten, stechend blauen Augen wahr. »Wo liegen Ciesrts Schwächen?«
Jerial zuckt die Schultern. »Er besitzt keinerlei Stärken.«
Lorn nickt. »Und hat keine Prinzipien, mit Ausnahme seiner Selbstsucht.«
»Du, mein Bruder, tust alles, um deine zu verbergen.« Jerials Augenbrauen werden zu spitzen Bogen.
»Dann bin ich ihm vielleicht sehr ähnlich.«
»Das kann man nun wirklich nicht behaupten. Das würde nicht einmal Dettaur tun, obwohl er dich hasst. Er ist immer noch felsenfest davon überzeugt, dass du derjenige warst, der vor Jahren seine Finger brach.«
»Das könnte ein Problem werden. Ich werde morgen früh nach Kynstaar aufbrechen«, erzählt Lorn ruhig.
»Bist du deshalb gekommen?«
»Ich dachte mir, du würdest es gern erfahren.« Er grinst unbekümmert, als würde er sich auf dem Korfalfeld oder im Kaffeehaus befinden.
»Zumindest kannst du Offizier werden und Dettaur wird nicht zu weit über dir stehen.«
»Wenn ich nicht vom Pferd abgeworfen werde oder mich ›versehentlich‹ ein Schuss aus der Feuerlanze trifft, meinst du.« Lorns Lachen klingt nur halb belustigt, man hört auch Missbilligung heraus. »Aber ich habe durchaus Chancen, dort zu überleben, denke ich.«
»Du machst dir keine Illusionen, lieber Bruder?« Jerial lacht ironisch, aber auch mitfühlend. »Das wird zweifellos helfen.«
»Ich wollte mich mit dir übers Heilen unterhalten«, sagt Lorn.
Jerial nickt. »Das wolltest du schon immer.«
»Ich habe dir und Myryan zugesehen. Ein Schwarzer Nebel umgibt euch – tragt ihr deshalb so gern Schwarz?«
»Schwarz hat seine Vorteile – dazu gehört auch die Täuschung.«
»Ciesrt mag bestimmt kein Schwarz«, meint Lorn. »Täuschung, was das Heilen betrifft?«
»Ich halte es fast für eine Art Ordnung. Es ist das Gegenteil der aufwallenden Macht des Chaos und es gibt wirklich zwei Arten von Chaos: das unsaubere Chaos in einer Wunde und das in den Türmen und den Energiezellen der Feuerwagen …«
»Aber du warst niemals in der Nähe eines Turmes«, sagt Lorn.
»Das muss ich auch nicht. Aus Vaters Erzählungen weiß ich, dass das Chaos, das die Feuerwagen antreibt, dem aus den Türmen entspricht. Ihr alle habt davon erzählt, wie die Magi’i das Chaos in die Feuerwagen übertragen, und selbst ich bin den Feuerwagen schon so nahe gekommen, dass ich den Unterschied fühlen konnte.«
»Und du hast mit all deinen Sinnen gearbeitet. Die meisten Heiler tun das nicht.«
»Nur die Heiler, die in diesem Haus aufgewachsen sind«, entgegnet Jerial.
»Das stimmt allerdings.« Er blickt wieder von Jerial zu den Würfeln und dann zurück in ihr fein gezeichnetes Gesicht, ein Gesicht,
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