Sturm der Barbaren
dass trotz seiner Schönheit auch aus Sonnenstein oder Granit gemeißelt sein könnte.
»Was willst du mit dem Heilerwissen anfangen?«, fragt Jerial.
Lorn lächelt vielsagend und hofft, dass er nicht mit Worten antworten muss. .
»Lieber Bruder … du bist wirklich zuckersüß, wenn du nur willst, aber du benutzt alles und jeden.« Das harte Lächeln wird weich. »Manchmal.«
»Ich habe niemals versucht, euch zu verletzen.«
»Du hast gelernt, die Menschen zu benutzen – uns eingeschlossen –, ohne sie zu verletzen, dennoch benutzt du sie, Lorn. Erinnerst du dich an die Chaosgeschliffenen, in Cupridium gefassten Smaragde, die du mir und Myryan geschenkt hast?«
»Ja«, gibt Lorn kleinlaut zu.
»Du hast Mutter und Vater niemals davon erzählt, hab ich Recht?«
»Nein.«
»Aber sie wussten es trotzdem.« Jerial lächelt, als wäre die Antwort ohnehin klar gewesen.
»Ich nehme es an.«
»Wie könnte eine von uns etwas so Kostbares tragen, ohne dass Mutter oder Vater danach fragen?« Sie lacht. »So hast du den Eindruck von Bescheidenheit und Warmherzigkeit erweckt.« Ein Schulterzucken folgt. »Ich weiß, dass du ein großes Herz hast, aber du wolltest auch, dass unsere Eltern das wissen, und du hast sie um so mehr beeindruckt, weil du es heimlich getan hast.« Nun lächelt sie schief. »Und … sie konnten nicht fragen, wie du an das viele Gold gekommen bist.«
Lorn wird rot.
»Wie hast du es angestellt? Spiele … oder Diebstahl?«
Lorn macht sich auf einiges gefasst, er zuckt zögernd die Schultern. »Weder noch. Handel. Das weißt du doch. Deshalb hast du doch von einem Buchhalter gesprochen.«
»Du darfst überhaupt keine Münzen anfassen und die Lektoren … oh … wer ist es? Welche Frau, sollte ich besser fragen. Es ist also eine Händlerin.« Plötzlich lacht Jerial laut heraus. »Der Duft! Natürlich.« Sie schüttelt den Kopf. »So ein aufdringlicher Geruch, dass wir alle dachten …«
»Ich glaube nicht, dass du sie kennst«, meint Lorn ruhig. »Ich bin seit über einem Jahr mit ihr bekannt. Über zwei Jahre sogar«, verbessert er sich.
»Du hast … Nein, ich frage nicht.«
»Danke.«
»Anscheinend möchtest du wirklich etwas über das Heilen erfahren … sonst hättest du nicht so viel verraten. Du kannst dich nicht selbst heilen, das weißt du. Du kannst nur den Chaos-Fluss abhalten, wenn du stark genug bist.«
»Ich weiß.«
»Schlaues Bürschchen.« Jerial nickt. »Ich werde dir noch mehr zeigen.« Sie lächelt. »Myryan hat mir erzählt, was sie dir beigebracht hat.«
»Ein Mann hat wohl kein Recht auf Geheimnisse?«, protestiert er.
»Vor seinen Schwestern?« Sie lacht herzlich. »Grundsätzlich nein, aber du hast ohnehin mehr Geheimnisse als die meisten Männer.«
Lorn hofft dies aufrichtig. Wirklich aufrichtig.
XV
L orn steht neben dem makellosen Schreibtisch aus Weißeiche in seinem eigenen Zimmer und starrt durch das Glasfenster hinaus in den kalten Nebel, der den Regen abgelöst hat. Am Morgen wird er nach Kynstaar aufbrechen und sein Versprechen an Myryan bleibt uneingelöst. Er schürzt die Lippen, während er hinaus in den Nebel starrt, den er gar nicht sieht.
Das Problem bei Ciesrt ist nicht der Magierschüler selbst, der bald die vierte Stufe erreicht, sondern sein Herr Vater, Kharl’elth, der Zweite Magier und Oberlektor. Eine Vermählung zwischen Myryan und Ciesrt wäre für beide Familien von Vorteil. Das Talent zur Chaos-Führung zeigt sich stark bei allen Kindern Kien’elths, auch Vernt besitzt dieses Talent, wenn auch weniger ausgeprägt. Myryans Kinder hätten eine viel größere Chance, mit diesem Talent auf die Welt zu kommen, als die Kinder jeder anderen Frau, mit der sich Ciesrt vermählen könnte. Von dieser Verbindung würden auch Vernt und die Eltern beider Seiten profitieren – sogar Lorn könnte einen Nutzen daraus ziehen. Die einzig Leidtragende bei dem Ganzen wäre die empfindsame Myryan.
Lorn runzelt die Stirn. In der wenigen Zeit, die ihm noch bleibt, hat er nicht mehr viele Möglichkeiten. Er könnte Ciesrts Vater beseitigen oder seinen eigenen Vater davon überzeugen, anders zu handeln. Kann er einen Mord an einem Menschen damit rechtfertigen, dass seine Schwester Myryan unglücklich mit ihrem zukünftigen Gemahl sein würde? Aber Lorn hat versprochen, etwas zu unternehmen.
Er muss etwas tun.
Lorn starrt noch eine Weile hinaus in den Nebel. Dann fährt er herum und verlässt das Gemach, die Tür bleibt offen stehen. Er läuft
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