Sturm der Barbaren
Kien’elth schüttelt den Kopf und seine sonnengoldenen Augen verfinstern sich. »Ihr jungen Leute glaubt alle, ihr wärt anders. Ihr glaubt wohl, dass wir niemals jung waren, dass wir niemals gefühlt haben, was ihr fühlt, dass wir niemals verstehen können, was ihr durchmacht.« Kien’elth schnaubt. »Jede Generation denkt so über ihre Eltern.«
»Das will ich gar nicht sagen, Ser. Überhaupt nicht. Ich will nur sagen, dass sich Myryan von uns anderen drei Geschwistern unterscheidet. Jerial kann mit allem fertig werden, was ihr widerfährt, Vernt auch. Und ich hoffe, dass auch ich dazu in der Lage bin. Myryan braucht zumindest mehr Zeit, um zu lernen, wer sie ist.
Und sie braucht einen Gemahl, der ebenso rücksichtsvoll ist, wie du Mutter gegenüber warst.« Lorn befürchtet, dass er zu viel gesagt und dass das bisher Gesagte zu wenig Eindruck hinterlassen hat.
Das Prasseln auf dem Dach steigt zu einem gewaltigen Trommeln an und hört plötzlich auf, dann fährt ein kalter Windstoß durch die geschlossenen Läden in den Raum; vielleicht ist eines der Fenster nicht ganz dicht.
»Das willst du beurteilen?«
»Nein, Ser. Ich will nur meine Gedanken sowie meine ganz persönliche Auffassung von der ganzen Sache äußern. Ich sage dies auch, weil ich morgen nicht mehr hier sein werde, denn ich liebe meine Schwester und ich fürchte um sie. Würde ich morgen nicht fortgehen, hätte ich heute nichts gesagt.«
»Die Sorge um deine Schwester rechne ich dir hoch an, Lorn, aber glaubst du nicht, dass ich mich gleichfalls um das Wohl meiner Tochter sorge? Glaubst du denn, ich habe ihr empfindsames Gemüt nicht bemerkt? Dass ich sie nicht beschützt sehen will in Zeiten, die sehr wahrscheinlich großen Wirbel und enorme Veränderungen mit sich bringen werden? Meinst du nicht auch, dass ich ihr diesen Schutz nur durch einen Gemahl bieten kann, der stark genug ist und dem richtigen Stand angehört?«
Lorn möchte eigentlich etwas anderes darauf antworten, aber er hält seine Zunge im Zaum und sagt: »Ich habe deine Sorge um uns nie infrage gestellt. Oder deine Bemühungen, uns zu helfen, wo du kannst. Die Entscheidung über Myryans Vermählung liegt allein bei dir, und ich weiß, wie sehr du sie liebst. So wie ich auch. Ich möchte nur das Beste für sie, Vater, und ich habe dir gegenüber meine Befürchtung in dem Wissen geäußert, dass du tun wirst, was du tun musst.«
Kien’elth schüttelt nachdenklich den Kopf. »Du überraschst mich immer wieder aufs Neue … Lorn. Manchmal frage ich mich, ob du jemals Kind warst.«
Wieder wartet Lorn, bis sein Vater fortfährt.
»Du erinnerst mich mehr an Toziel’elth’alt’mer als jeder andere in unserer Familie, Schicht um Schicht verbirgt sich hinter deinen Augen.« Kien’elth richtet sich auf. »Das hoffe ich auch, denn du wirst diese schlaue Form von Ehrlichkeit noch brauchen, besonders in den kommenden Jahren. Und jetzt … werde ich darüber nachdenken, was du gesagt hast. Das ist alles, was ich versprechen kann.«
Lorn verneigt den Kopf. »Danke, Ser.«
»Wenn das alles ist …?« Kien’elth steht auf.
»Das ist alles, Vater. Danke, dass du mich angehört hast.«
»Ich wäre ein schlechter Vater, würde ich das nicht tun, Lorn.« Kien’elth räuspert sich erneut, bevor er hinzufügt: »Ich werde über deine Worte nachdenken, aber man hat leider nicht immer die Wahl; auch wenn Außenstehende anderer Meinung sind. Versuche, dich zu gegebener Zeit daran zu erinnern.«
»Ja, Ser.« Lorn verbeugt sich und verlässt das Arbeitszimmer.
Draußen blickt er durch die Dunkelheit und nimmt die weißen Punkte auf dem benachbarten Dach wahr, die letzten Flecken, die noch übrig geblieben sind von dem kurzen Hagelschauer, der auf Cyad niederging. Die Nacht hat die Dämmerung abgelöst und der Hafen ist nur noch durch die Leuchtfeuer auf den Pieren zu erkennen, während der Palast des Lichts durch den Nebel strahlt, der Cyad nun wieder einhüllt.
Lorn steigt die Stufen hinab und kehrt in sein Gemach zurück.
Myryan sitzt auf dem harten Stuhl mit dem Rücken zum Schreibtisch.
»Myryan …«
»Du hast mit Vater über mich gesprochen, nicht wahr?« Sie springt auf, um ihn anzusehen. »Nicht wahr?«
»Ja.«
Ein sanftes Lächeln umspielt ihre Lippen und sie streicht sich abwesend eine schwarze Locke aus dem Gesicht. »Du hast ihn aus der Fassung gebracht. Ich kann es fühlen. Er hat dich auch aufgebracht, stimmt’s?«
»Ein wenig. Aber ich glaube nicht, dass er mich
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