Sturm der Barbaren
dass du in mehr als nur einer Hinsicht gewachsen bist. Ich glaube, du weißt, was ich meine«, beginnt Kien.
»Ja, Ser.«
»Du schlägst einen gefährlichen Weg ein, den nur wenige zu Ende gehen können.«
Lorn zuckt die Schultern, aber er versteht sehr gut, warum sein Vater über Lorns wachsendes Vermögen, Chaos zu kontrollieren, nicht offen sprechen will. »Ich habe nur befolgt, was Myryan und Jerial mir geraten haben, meiner Gesundheit zuliebe.«
»Sie müssen darüber Bescheid wissen, aber am besten erwähnst du es nie wieder laut, auch nicht mir gegenüber.«
»Ja, Ser.« Lorn muss sich in Erinnerung rufen, dass er sich nun wieder in der Stadt des Lichts befindet, wo jede Aussage wahrgelesen und jede Bewegung jederzeit in einem Spähglas eingefangen werden kann, so wie in dem, das zugedeckt auf dem Schreibtisch seines Vaters steht. Er runzelt die Stirn, als er das helle bernsteinfarbene Holz betrachtet, welches das Glas einrahmt.
Kien folgt Lorns Augen. »Ja, das habe ich seit einem Jahr. Das alte habe ich letztes Jahr auf der Reise zurück von Fyrad verloren.«
»Das ist seltsam«, meint Lorn.
»In der Tat sehr seltsam«, betont sein Vater nachdenklich. »Ich habe es in Fyrad eingepackt, aber als ich hier meine Sachen ausgepackt habe, war es verschwunden.«
Lorn nickt langsam. Nun weiß er, dass er wirklich zurück in Cyad ist.
»Seit einem Jahr habe ich nichts davon gesehen oder gespürt, ich bezweifle, dass ich jemals etwas über das Schicksal des Glases erfahren werde.« Kien beugt sich über den Schreibtisch und studiert seinen Sohn. »Kannst du dich an Alyiakal erinnern?«
»Den Lanzenkämpfer-Kaiser?«
»Den Lanzenkämpfer-Magier-Kaiser. Jeder Spiegellanzenkämpfer, der über Fähigkeiten wie er verfügt, könnte Cyador ohne weiteres an die Barbaren übergeben.«
Lorn schweigt und wartet.
»Ich werde alt, Lorn, und ich halte gern Vorträge. Ich bitte dich nur, mir zuzuhören und keine Fragen zu stellen.« Bei diesen Worten dreht sich Kien’elth in seinem Stuhl um, sodass er den Lanzenkämpferhauptmann nicht mehr ansehen kann. »Alle, die zu den Magi’i gehören, müssen dem Chaos dienen und sind deshalb in ihren Handlungen durch Chaos eingeschränkt. Lanzenkämpfer kann es nicht in unbegrenzter Anzahl geben, weil Cyador die Kompanien der Spiegellanzenkämpfer nur begrenzt mit Feuerlanzen versorgen kann. Ein hoher Lanzenkämpferoffizier, der die Chaos-Kräfte beherrscht, wäre nicht in solchem Maße gebunden oder eingeschränkt, und deshalb müssen die ranghöchsten Kommandanten der Spiegellanzenkämpfer und die hohen Lektoren dafür sorgen, dass so ein Lanzenkämpfer niemals ein hoher Offizier wird. Niemand spricht darüber; niemand außer den Adepten der höchsten Stufe und den Lektoren weiß davon.«
Lorn schweigt weiter, auch während der Pause, die den Worten seines Vaters folgt. Genau genommen hat Kien’elth seinen Sohn nicht direkt angesprochen, und doch hat er schon viel riskiert mit dem, was er gesagt hat.
Kien wendet sich wieder seinem Sohn zu. »So mancher in Cyador neigt dazu, die Freiheit der Barbaren zu romantisieren.« Er zieht die weißen Augenbrauen hoch. »Gehörst du auch zu denen?«
»Nein. Obwohl ich mir schon Gedanken gemacht habe über diese Freiheit.« Lorn lacht barsch. »Aber das war, bevor ich sie kennen lernte.«
Kien nickt. »Ein Mensch, der keinerlei Beschränkungen unterliegt, ist ein Sklave des Zufalls und der Ordnung. Die Barbaren sind Sklaven des Zufalls, auch in ihrem Bestreben, frei zu sein.«
»Sie sind gefährlich und jedes Jahr scheinen es mehr zu werden«, erklärt Lorn.
»Ich vermute, dass dies schon seit vielen Generationen der Fall ist«, meint Kien darauf. »Cyador besteht weiter und die Barbaren stürzen sich immer wieder von neuem auf die Lanzenkämpfer – aber vergeblich.«
Lorn nickt, aber er weiß auch um Jostyn und Cyllt – und um andere, die an diesen vergeblichen Angriffen zu Grunde gingen.
»Du bleibst eine ganze Jahreszeit hier?«
»Fünf Achttage.«
»Gut. Dann werden wir noch öfter Gelegenheit zum Gespräch haben.« Lorn lächelt. »Genau so, wie eine Anzahl von jungen Damen auch, vermute ich.«
Lorn zuckt die Schultern und sieht ziemlich verlegen aus.
Der ältere Mann steht auf. »Ich will dich nicht länger von deiner Schwester und deiner Mutter fern halten. Sonst werden wir bald was von ihnen zu hören bekommen.«
Mit einem Lächeln im Gesicht steht Lorn auf.
»Wirst du zum Abendessen hier sein?«
»Natürlich.
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